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Die San-Diego-Mission

Die San-Diego-Mission

Titel: Die San-Diego-Mission Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Wambaugh
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hatten sie hier draußen eigentlich verloren, und was würden sie jemals vorzeigen und dabei sagen können: »Guckt mal, was wir vollbracht haben!« Eigentlich konnten sie genausogut Parksünder aufschreiben.
    Für die Barfer war die Weihnachtszeit immerhin lange nicht so schlimm wie für Rosa Lugo, die zitternd an der Monument Road stand, ihre dreizehnjährige Tochter Esther an der Hand hielt und dabei voller Sehnsucht auf das Land schaute, in dem angeblich Milch und Honig flossen. Rosa Lugo gab sich die größte Mühe, nicht mit den Zähnen zu klappern, denn ganz abgesehen von der Kälte war sie erstarrt vor Angst. Sie hatte sich die Nacht ausgesucht, um ihrer Tochter Esther eine Chance fürs Leben zu geben. Sie wollten rüber, und sie glaubten, daß das nächste Weihnachtsfest dann vielleicht schon ganz anders aussehen würde.
    Eins war in jedem Fall sicher, man mußte ein äußerst gutes Nervenkostüm haben, wenn man kaum mehr als ein Hemd und einen unvorstellbar fadenscheinigen Poncho am Leib hatte und in der Finsternis hier am Highway stand, hilflos den plötzlichen und heftigen Windstößen ausgesetzt, die Rosas hüftlanges Haar wie einen Pfeil nach vorn wehten – einen Pfeil immerhin, der nach Norden zeigte und damit noch als gutes Omen gelten konnte.
    Eine natürliche Möglichkeit, über die Grenze zu gehen, bot ein großer Abwasserkanal fünfhundert Meter östlich der Kreuzung der Monument und der Dairy Mart Road auf amerikanischer Seite. Man wußte, daß viele Pollos in diesem Tunnel die Grenze unterquerten, obgleich man es sich kaum vorstellen konnte, weil ganz in der Nähe der kaputte Drahtzaun stand. Der Tunnel jedenfalls war nicht nur ein Ort, in dem immer Menschen herumhockten, herumkrochen und warteten, sondern in dem sie auch vor lauter Angst und Nervosität oder weil sie krank waren ununterbrochen pinkelten und schissen.
    Und in dem die Gangster lauerten.
    Derzeit warteten zwanzig Menschen in diesem Abwassertunnel auf einen Führer, der nie kam. Es war nicht einmal eine sehr kalte Nacht; es war eine klare Nacht, nicht dunstig, sondern rabenschwarz. Der vom Meer kommende Wind blies den Dunst über Tijuana und die Wolken über San Diego weg, und die Grenzgänger hoben sich gegen den klaren Nachthimmel sehr deutlich ab, was der Border Patrol das Leben ein bißchen erleichterte. In solchen Mondnächten waren in den Canyons, auf den Hügeln und hier bei dem Spargelfeld westlich der Interstate 5 die Schatten wirklich schwarz wie Anthrazitkohle. Innen in dem Abwassertunnel dagegen war es so dunkel, daß man die Gegenwart anderer Menschen viel eher riechen als erkennen konnte. Und das war wahrscheinlich das Schlimmste an der Sache. Innen in dieser Röhre zu stecken, in einer Dunkelheit, die viel schwärzer war als die Nacht, und die Nähe vieler anderer Lebewesen zu spüren, die man zwar riechen, aber nicht sehen und nicht hören konnte.
    Rosa Lugo hätte am liebsten in dem Moment kehrtgemacht und wäre aus dem Tunnel gerannt, in dem sie die ersten menschlichen Wesen roch. Aber sie war tatsächlich sehr tapfer, und so hielt sie ihre Tochter mit schweißnassen Händen immer fester und kroch weiter auf die dunkle Leere und das heiße Atmen der Menschen zu.
    Es zeigte sich, daß sich, wie gesagt, zwanzig Pollos versammelt hatten, deren Führer nicht gekommen war. Einige dieser Leute im Tunnel waren später seltsamerweise kaum in der Lage, ihr Verhalten nach der Ankunft von Rosa Lugo und ihrer Tochter Esther zu erklären. Dieses sowohl erschreckende als auch tragische Phänomen begegnete ihnen hier zum erstenmal, und zumindest ein paar Männer der BARF Squad versuchten bis zum Schluß, es zu begreifen. Unschuldige beziehungsweise Geiseln oder Opfer sagen zu einem gewissenlosen Soziopathen, der sie urplötzlich attackiert und bedroht: »Du würdest gar nicht auf die Idee kommen, mir etwas anzutun, wenn du wüßtest, wie unterwürfig und demütig und gehorsam ich sein kann!« Allerdings wissen Opfer wahrscheinlich auch nicht mehr über Soziopathie als der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Das bedeutet, das Opfer kann im Grunde gar nicht glauben, daß es echte Soziopathen gibt, obgleich man sie ja überall findet, in der auffälligen und asozialen Form ebenso wie in der unauffälligen und sozialisierten. Soziopathen sind sehr häufig recht attraktiv, intelligent und geistig gesund und haben lediglich überhaupt kein Gefühl für Schuld und statt dessen ein Superego – egal, wie man's nennt.
    Mit anderen

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