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Die Sanddornkönigin

Die Sanddornkönigin

Titel: Die Sanddornkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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Erinnerungen freien Lauf zu lassen. Es war schon immer ihr geheimer Platz gewesen, sie hatte dieser alten Mauer schon mehr Geheimnisse anvertraut als einem Menschen aus Fleisch und Blut.
    Alles hatte damit angefangen, dass sie dort mit ihrer ersten großen Liebe die Dinge getauscht hatte, die niemanden etwas angingen. Erst waren es Liebesbriefchen gewesen, dann waren es Kinokarten, und als sie sechzehn war, hatte sie dem Jungen aus der Nachbarschaft den Haustürschlüssel bereitgelegt. Einige Zeit darauf legte sie wieder einen Zettel in die unauffällige Nische. »Ich bin schwanger. Was sollen wir tun?« Dann hatte jahrelang nichts mehr in dem Versteck auf sie gewartet. Bis sie sich als junge Frau wieder daran erinnerte und dort einen Umschlag mit einem großen Schein und einem kleinen Brief deponierte. »Lieber, lieber Fokke. Es tut mir unendlich Leid, mein neuer Mann will nicht, dass du zur Hochzeitsfeier kommst. Gib ihm etwas Zeit, mein lieber Sohn, er wird dich eines Tages in sein Herz schließen, und dann sind wir eine richtige Familie, versprochen! Deine Mama.«
    Es schnürte ihr die Kehle zusammen, wenn sie daran dachte, dass sie damals wirklich an diese Worte geglaubt hatte. Sie hatte ihm noch tausend Male auf diese Weise etwas zukommen lassen, zuerst wurde sie von ihm deshalb mit selbst gemalten Bildern belohnt, oder er legte ein Schulheft hinein, wenn unter einer Arbeit eine gute Note gestanden hatte. Irgendwann hatte sie dann keine Antworten mehr erhalten. Sie fühlte, wie ihr ein warmer Schauer durch das Herz floss, denn er hatte sich heute an dieses gemeinsame Geheimnis erinnert, und dass sie nun den rettenden Schlüssel in der Hand halten durfte, war wie ein Verzeihen seinerseits.
    Ihr Elternhaus war bereits seit Jahren verkauft, die neuen Eigentümer waren nur in den Sommermonaten auf der Insel, und aus diesem Grund konnte sie unauffällig um die Hausmauern schleichen. Der weitere Weg wurde schwieriger. Es war zwar bereits ein wenig dunkel, der graue Himmel hatte die Sonne an diesem Tag in Schach gehalten und nun war es bereits früher Abend. Doch Hilke konnte es nicht vermeiden, sie musste zwei Straßen überqueren, auf denen die Juister wie im Feierabendverkehr unterwegs waren. Es kannte sie jeder, und sie war sich auch nur zu sicher, dass jeder von ihrem Verschwinden und der Suche nach ihr wusste. Auf einer so kleinen Insel war man einander so vertraut, dass man sich bereits durch den typischen Gang oder die jedem bekannte Wetterjacke verriet.
    Hilke fiel die Tischdecke ein, sie wollte sich das Tuch irgendwie über den Kopf werfen, doch ein Blick in den Schlafsackbeutel jagte ihr einen kurzen Schauer über den Rücken: Sie hatte also eine Spur in der Hütte hinterlassen. Schließlich steckte sie sich den Schlafsack unter den Pullover und warf ihre Jacke linksherum über die Schultern. Auf die Idee mit dem Handy kam sie, als ihr das Telefon aus der Brusttasche fiel. Niemand würde sie näher betrachten, wenn sie sich das Telefon zwischen Schulter und Kinn klemmte und polnisch in den Hörer quatschte oder zumindest ein Kauderwelsch, das irgendwie polnisch klang. Ihr lief der Schweiß den Körper hinab, als sie auf die Straße trat. Eigentlich waren es nur ein paar Schritte, vielleicht achtzig Meter bis zur Pension »Inselfreude«, doch begegneten ihr nahezu sofort zwei Vereinsmitglieder aus der plattdeutschen Theatertruppe, für die sie noch bis vor drei Jahren die Kostüme genäht hatte, dann überholte sie ein Getränkelieferant, mit dem sie sogar per Du war. Er blickte sich kurz um, knurrte ein »Moin« und fuhr weiter. Er hatte sie nicht erkannt, er grüßte alles, was weiblich war. Sie fühlte den harten Schlüssel warm in ihrer Hand liegen. Dann war sie endlich da.
    Die Haustür war verschlossen, was sie irgendwie erleichterte. Auf der Insel wurden die Türen, wenn überhaupt, nur dann verschlossen, wenn niemand zu Hause war.
    Sie schlich sich durch den langen Pensionsflur, stolperte über ein kleines Körbchen, in dem sich Reinigungsbenzin und ein Schild »Bitte die Schuhe vom Teer am Strand reinigen« befanden. Die Treppe am Ende des Ganges knarrte, wie es sich für eine Holztreppe gehörte, Hilke hastete hinauf und hielt den Zimmerschlüssel bereits im Anschlag, mit dem sie die Tür Nummer sieben öffnete. Das Zimmer dahinter konnte sie im Dämmerlicht kaum noch ausmachen, nur das Bett breitete sich unübersehbar vor ihr aus. Dankbar ließ sie sich darauf sinken, zweimal wandte sie noch den

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