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Die Sanddornkönigin

Die Sanddornkönigin

Titel: Die Sanddornkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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konnte, was sie eben noch getrieben hatten, und es kam ihnen vor wie eine Provokation, sich neben ein älteres Ehepaar auf eine Bank zu setzen und dem Kurorchester beim »Ave Maria« zu lauschen. Hatte er es damals laut gesagt oder nur gedacht, dass er sich kleine rothaarige Kinder wünschte, die ihn mit verschmierter Schnute um ein Zimteis anbettelten?
    Es war nur dieser eine Tag im Sommer gewesen. Am nächsten Tag hatte er zum ersten Mal von dem Gerücht gehört, dass Thore und Ronja es miteinander trieben.
     
    Sanders hatte nicht gut geschlafen. Obwohl es eigentlich gar nicht seine Art war, hatten ihn die Gedanken an den Fall und merkwürdigerweise auch die Gedanken an Wencke Tydmers wach gehalten. Er war froh, als es endlich sieben Uhr war und aus dem Frühstücksraum nebenan der Geruch von starkem Kaffee in sein Zimmer drang.
    Es war ungewohnt, ohne Morgenzeitung zu frühstücken. Daran konnte auch das Geplauder der eifrigen Pensionswirtin nicht viel ändern. Und so begann sein Gedankenkarussell wieder zu rotieren. Beim ersten Glas Orangensaft schwor er sich, noch heute Hilke Felten-Cromminga ausfindig zu machen. Sie konnte schließlich nicht spurlos von der Insel verschwunden sein, es sei denn, sie wäre geschwommen. Als er das Ei köpfte, nahm er sich vor, Thore Felten in die Mangel zu nehmen, ihn auf Herz und Nieren zu prüfen und zu den neuesten Erkenntnissen zu befragen. Als er die dritte Tasse Kaffee getrunken hatte, stand er auf.
    Er hatte keine Lust zu warten, bis seine Kollegen so weit waren, um halb acht stand er in der klaren Morgenluft und beschloss, nicht auf dem kürzesten Weg zum »Dünenschloss« zu gehen, sondern der geschrienen Einladung der Möwen ins Watt zu folgen. Er brauchte nur die Straße zu überqueren, sie war einseitig bebaut, gegenüber breitete sich bereits der Deich aus, und dahinter lag eine graugrüne Wiese, die nahezu nahtlos ins Wattenmeer überzugehen schien. Er ging fast bis zu der Stelle, wo das Salzwasser bereits müde an den Grassoden leckte. Die Halme sahen fast außerirdisch aus, sie waren zerrauft und faserig und rochen nicht, wie Pflanzen zu riechen pflegen, sondern eher wie vermoderter Fisch oder eine Muschelkonserve. Sanders sog trotzdem den Atem tief durch die Nase ein, er hatte während seiner schlaflosen Nacht versucht, sich mit einer Insellektüre abzulenken, und hatte dort etwas über den ungewöhnlich hohen Anteil an Jod, Salz und Brom in der Juister Luft gelesen. Vielleicht konnten heilsame Aerosole ihm diese Hirngespinste aus dem Kopf vertreiben, die ihn so gnadenlos wach gehalten hatten.
    Es ging um Thore Felten, es ging um Ronja Polwinski, und es ging zu seinem Erstaunen immer wieder um Wencke Tydmers. Sie hatte sich gestern wider Erwarten als effiziente Mitarbeiterin bewiesen. Sie hatte nachgehakt, sie hatte kombiniert, sie hatte ihn an ihrem Wissen kollegial teilhaben lassen. Er wünschte sich, in Zukunft öfter in einem Team mit ihr zu ermitteln, doch wenn er erst einmal die Leitung übernommen hatte, lag es ohnehin in seinem Ermessen, die Gruppen einzuteilen.
    Er war nur wenige Schritte am Wasser entlanggegangen, als sich vor ihm ein schmaler, feuchter Schloot auftat. Sanders schaute sich um, der Graben reichte fast bis zum Deichfuß, es machte also wenig Sinn, um ihn herumzulaufen. Er ging ein kleines Stück rückwärts, überprüfte mit einem kurzen Blick, ob er unbeobachtet war, dann nahm er Anlauf und sprang hinüber. Sein Herz spürte einen kleinen Ruck kindlicher Freude, wie es bei Sanders schon viel zu lange nicht mehr vorgekommen war. Als er den nächsten Graben sah, rannte er wieder schneller, nach dem zweiten Sprung wurde er gar nicht mehr langsamer, sondern tollte ausgelassen über die Hellerwiesen, bis ihm die Luft ausging und noch ein bisschen länger.
    Atemlos ließ er sich am Deichfuß nieder, der Boden war noch feucht von gestern, doch das störte ihn kaum, er stützte sich nach hinten mit den Ellenbogen ab und bekam erdige Flecken am Jackenärmel, doch es war ihm egal. Er wollte noch einen Augenblick auf das friedliche Wattenmeer starren, die gesunde Luft in sich hineinlassen und warten, dass sein Herz wieder im gewohnten Rhythmus schlug. Er wartete lange, die Nässe kroch in seine Kleidung, und ihm wurde kühl, doch sein Herz schien noch immer zu tanzen. Er hatte es geahnt. Oder auch nicht. Es war der Gedanke an Wencke Tydmers, der den Puls beschleunigte.
     
    Du hättest mich wecken müssen«, fluchte Wencke. Sie waren um neun Uhr im

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