Die Sanddornkönigin
umklammern. Wencke schwieg. Sie hörte nichts. Der Lärm von der Küche drang durch keine Ritze, deswegen würde es auch keinen Sinn machen, aus Leibeskräften zu brüllen. Das Summen der Ventilatoren war leise, fast ein wenig beruhigend in der Dunkelheit, und Wencke bemerkte mit Schrecken, dass sie begann, müde zu werden.
Woher kam das Ventilatorengeräusch? In dem kleinen Raum konnten ihre Ohren nur schwer die ungefähre Richtung nachvollziehen, sie tastete die Wände ab, bis sie meinte, ein feines Plastikgitter zu fühlen, aus dem ein eisiger Luftzug geblasen wurde. Sie musste dieses Gerät zum Stehen bringen, das war eine Chance. Wenn die Luft in diesem Raum nicht mehr zirkulierte, würde die kalte Luft nach unten sinken, und sie hatte eine reelle Chance, im oberen Bereich keine Erfrierungen zu erleiden. Mit einem langen, flachen Gegenstand könnte sie zwischen den Gitterlamellen hindurch das rotierende Blatt zum Stehen bringen, vorausgesetzt, sie fände etwas, das stabil genug wäre. Wenn sie doch wenigstens nur einen winzigen Lichtstrahl hätte, doch in dieser gnadenlosen Finsternis war es aussichtslos zu suchen.
Das Feuerzeug fiel ihr ein, es klemmte in der Gesäßtasche, sie zog es hervor und versuchte, es zu entzünden. Ihre Fingerkuppen waren jetzt taub, sie schmerzten nicht mehr, doch sie hatten auch jegliches Gefühl verloren, waren ihr fremd und machten es nahezu unmöglich, das Feuer anzureißen. Mit beiden Händen hielt sie das Feuerzeug nun fest umklammert, mit der einen drehte sie das winzige Rädchen, mit der anderen drückte sie das Gasknöpfchen nieder, doch der Funke erlosch. Sie versuchte es erneut, vergeblich, dann noch einmal, und diesmal hielt sie die kleine spärliche Flamme für einen kurzen Augenblick am Brennen. Eilig schaute sie sich um, sah auf dem Regal weiße Styroporkästen, einen Stapel Margarinedosen und eine kleine Obsttorte. Dann war es wieder finster. Sie hantierte erneut mit dem Feuerzeug, die Metallteile hatten sich durch die Flamme kurz erhitzt, sie spürte ein beißendes Brennen irgendwo an ihrer Hand, konnte es aber nicht mehr lokalisieren. Ihre Nerven funktionierten nicht mehr.
Bitte, bitte lass mich irgendetwas finden, dachte sie. Der kurze Flammenschein zeigte ihr eine Holzbox, als sie sich dorthin drehte, erlosch das Licht erneut. Sie tastete sich voran, bis sie die Obstkiste gefunden hatte, entleerte polternd den Inhalt auf dem Boden und riss mit aller Kraft die dünnen splitternden Bretter auseinander. Damit musste es gehen, sie setzte sich auf alle viere und kroch in die Ecke, in der sie den Lüfter vermutete. Das Holzstück war ein wenig zu stark, nur die Spitze ließ sich in den schmalen Gitterspalt schieben, doch Wencke gab nicht auf, sie setzte sich hin, erfühlte mit dem Fuß das Ziel und trat mit einem heftigen Ruck dagegen.
Ein Splittern drang aus der Ecke, gefolgt von einem kurzen Brummen, dann stand der Motor still. Sicherheitshalber schob sie den Keil noch ein wenig nach und überprüfte, ob noch ein Luftzug aus dem kleinen Schacht kam, doch es schien funktioniert zu haben. Sie konnte sich nicht darüber freuen, die Kälte nahm ihr die Kraft dazu. Wenn sie durchhalten wollte, so musste sie nach oben auf das Regal gelangen. Ein Styroporblock diente ihr als Stufe, sie räumte die oberste Regalreihe leer, indem sie mit dem Arm darüberfegte, dann trat sie mit dem einen Fuß auf die mittlere Schiene und zog sich langsam hinauf. Es war nicht viel Platz zwischen Bord und Decke, sie musste sich zusammenkauern, doch die Minustemperaturen zwangen sie ohnehin, die restliche Körperwärme zusammenzuhalten.
Ein scheußlicher Gedanke kam ihr in den Sinn: Sie stellte sich Ronja Polwinski vor, diese schöne Frau, die sie nie kennen gelernt hatte und der sie sich nun irgendwie so nahe fühlte. Schicksal verbindet, flüsterte ihr eine Stimme aus dem Nichts ins Ohr. An dieser Stelle hat schon einmal ein Herz aufgehört zu schlagen. Es war ein grausamer Ort zum Sterben. Dunkelheit, Einsamkeit und Kälte als letzte Gefährten. Wencke merkte, dass nicht nur die Kälte ihr Feind war, vielleicht hatte sie dieser Gegnerin einen Etappensieg abgerungen, denn die fehlende Luftzirkulation machte sich bemerkbar, die Temperaturen stachen ihr nicht mehr so schmerzvoll in die Haut. Eine andere Befürchtung machte sich in ihr breit, an der Stelle, wo nur noch der blanke Überlebenswille das Kommando über sie hatte. Sie rechnete die Kubikmeter geteilt durch den Sauerstoff, den sie
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