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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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mitten im Laufen zu Boden. Man hätte denken könnte, der Kleine sei einfach über die eigenen Füße gestolpert, doch schon sah Sun Bing das Blut aus seinem Kopf schießen, und es wurde ihm klar, daß Ai Hu von einer Kugel des deutschen Soldaten getroffen worden war. Die Trauer übermannte ihn, lauter Klagegesang machte sich in seinem Herzen breit. Er wirbelte seinen Stock und stürzte sich auf den Soldaten. Eine Kugel zischte dicht an seinem Ohr vorbei, doch da war er schon vor dem Feind. Der Deutsche wollte gerade sein Bajonett vom Gewehrlauf ziehen, doch Sun Bing war schneller. Schon hatte er ihm das Gewehr mit dem Stock aus der Hand geschlagen. Unter seltsamen Schreien lief der Deutsche in dem schlammigen Graben weiter. General Yue folgte ihm unbeirrt. Der Deutsche trug hohe Lederstiefel und patschte damit durch den Matsch. Der General bündelte seine Kräfte und versetzte dem Feind einen mächtigen Hieb mit seinem Stock. Dieser schrie in seiner merkwürdigen Sprache auf. Sun Bing nahm den Schafsgeruch wahr, den der Mann verströmte. Für eine Sekunde schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß der Mann von einem Schaf abstammen mußte.
    Der Deutsche fiel vornüber, mit dem Kopf in den Schlamm. Als er sich verzweifelt wieder aufzurichten versuchte, versetzte ihm General Yue noch einmal einen Schlag, diesmal auf den Kopf. Die hohe Mütze nutzte ihm nichts mehr. Sun Bing wollte noch einmal ausholen  – da bemerkte er die klaren, blauen Augen des Mannes, die so jämmerlich dreinblickten wie das Schaf, das er kurz zuvor geopfert hatte. Der General verlor seine Kraft. Der Stock fiel ihm aus der Hand und prallte auf die Schulter des Deutschen.

Kapitel 9:
Das Meisterwerk
    Mit dem Messer in der Hand stand Zhao Jia im Zentrum des kleinen Exerzierplatzes. Neben ihm stand sein krummbeiniger Lehrling. Vor ihm befand sich ein aufgerichteter Pfahl aus Pinienholz. An den Pfahl gefesselt war ein Verbrecher, der sich des versuchten Attentats auf Yuan Shikai schuldig gemacht hatte und zum Tod durch Zerstückelung in fünfhundert Teile verurteilt worden war. Hinter Zhao Jia gruppierten sich mehrere Dutzend Reiter auf Rassepferden, allesamt hochrangige Offiziere der neuen Armee. Hinter dem Exekutionspfahl standen fünftausend Soldaten stramm in Reih und Glied. Von weitem sahen sie aus wie Bäume, aus der Nähe betrachtet eher wie hölzerne Marionetten. Der trockene Wind des beginnenden Winters wirbelte den weißen Staub der alkalihaltigen Erde auf, der den Soldaten ins Gesicht blies. Unter den Blicken dieser großen Armee wurde selbst der erfahrene Henker Zhao Jia ein wenig nervös, er fühlte sich sogar etwas beschämt. Doch er bemühte sich, diese hinderlichen Gefühle auszublenden und versuchte, die Offiziere auf ihren Pferden und die Soldaten zu ignorieren, um sich ganz auf den Verurteilten vor ihm zu konzentrieren.
    Er rief sich die Worte seines Mentors, Großmutter Yu, in Erinnerung: Ein guter Scharfrichter sieht vor sich auf der Richtbank keine Lebewesen, sondern nur eine beliebige Masse aus Muskeln, Knochen und inneren Organen. Nach über vierzig Jahren Erfahrung in seinem Metier hatte Zhao Jia längst diesen hohen Grad an Professionalität erreicht, doch heute wollte die Unruhe einfach nicht aus seinem Herz weichen. In seiner jahrzehntelangen Praxis hatte er schon gut tausend Exekutionen durchgeführt, doch noch nie hatte er einen so gut gebauten, stattlichen Manneskörper vor sich gehabt. Der Verbrecher hatte eine große Nase, volle Lippen und schön geschwungene Augenbrauen; er war nackt, und man sah seine ausgeprägten Brustmuskeln, den flachen Bauch und die bronzefarben glänzende Haut. Ungewöhnlich war auch das spöttische Lächeln, das konstant auf dem Gesicht dieses Mistkerls lag. So wie Zhao Jia ihn musterte, musterte der Verurteilte auch den Henker. Er brachte Zhao dazu, sich wie ein Kind zu fühlen, das etwas ausgefressen hat, und mit schlechtem Gewissen vor dem Familienoberhaupt steht.
    Am Rande des Exerzierplatzes standen drei schwarze Kanonen, um die ein Pulk Soldaten herumschwirrte. Als in dichter Folge dreimal der Kanonendonner erschallte, fuhr Zhao Jia erschrocken auf. In seinen Ohren dröhnte es derart, daß er nichts mehr hören konnte. Der starke Geruch des Pulverdampfes aus den Kanonenrohren biß ihm in die Nase. Der Delinquent nickte ein paarmal anerkennend in Richtung der Kanonen, als würdige er deren Qualität. Zhao Jia hatte sich von seinem Schreck noch nicht erholt, als er erneut die Flammen

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