Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
heftigen Feuer standhalten? Die Leute zweifelten keinen Moment an dieser Behauptung, denn schließlich kannten sie das Sprichwort: »Reines Gold fürchtet kein Feuer«. Also heckten die Schlaumeier den Plan aus, die Schienen zu lockern, um so den Zug zum Entgleisen zu bringen und den Verlust des verschwendeten Strohs und der Bohnen wettzumachen. Als sie dann mit ihren Werkzeugen in die Lokomotive eindrangen, mußten sie feststellen, daß keine einzige Unze Gold am Heizkessel war ...
Obwohl mein Heimatdorf keine zwanzig Kilometer von der Bahnstrecke entfernt liegt, war ich erst mit sechzehn Jahren zum ersten Mal dort. Ich stand eines Nachts mit ein paar Kumpels am Rande der Gleise und sah diesen furchterregenden, gigantischen Koloß an mir vorüberzischen. Das erschreckende, helleuchtende einzelne Auge der Lokomotive und ihr überwältigender Lärm raubten mir den Atem. Bis heute kann ich mich gut an diesen bewegenden Moment erinnern. Natürlich bin ich später sehr oft mit dem Zug auf Reisen gewesen, aber das war für mich etwas ganz anderes als der Zug, den ich damals in Gaomi gesehen hatte. In meiner Jugend war ich überzeugt von den Geschichten, die man mir erzählte. Ich glaubte, daß Züge lebendige Wesen seien. Die Züge, in denen ich später reiste, waren nur noch Maschinen.
Die zweite Stimme, die in mir fortlebt, ist die Stimme der Katzenoper von Gaomi. Die Melodien dieser kleinen Stücke sind von Trostlosigkeit geprägt. Insbesondere trifft das für die weiblichen Gesangsparts zu, aus denen man das Wehklagen von unterdrückten Frauen heraushört. Sowohl Erwachsene als auch Kinder hatten in dieser Region stets Melodien aus dieser Oper auf den Lippen, fröhliche wie traurige. Es war eine wirklich volkstümliche musikalische Gattung, die von Generation zu Generation überliefert wurde, ohne daß für ihre Beherrschung ein besonderes Studium erforderlich war. Es gibt die Geschichte von einer alten Frau aus Dongbei, die ihrem Sohn in die Mandschurei gefolgt war. Als sie schwer krank wurde und schon im Sterben lag, brachte ihr ein Landsmann aus der Heimat eine Tonbandkassette mit Katzenoper mit, die ihr der Sohn auf dem Kassettenrekorder vorspielte. Als sie die Musik ihrer Heimat hörte, setzte sich die alte Frau, die eben noch mit dem Tod gerungen hatte, mit strahlendem Gesicht und leuchtenden Augen auf. Erst als sie die Kassette zu Ende gehört hatte, legte sie sich wieder hin und starb.
Als ich klein war, folgte ich zusammen mit den größeren Kindern des Dorfes häufig den funkelnden Irrlichtern ins Nachbardorf, wo es Operndarbietungen gab. Die Glühwürmchen, die am Himmel tanzten, leuchteten mit den Irrlichtern am Boden um die Wette. Vom fernen Grasland her hörte man Füchse heulen und Eisenbahnen pfeifen. Schöne Frauen in roten oder weißen Kleidern saßen weinend am Wegesrand. Ihr Weinen zirkulierte endlos durch die Luft, gerade so wie die Melodien der Katzenoper. Wir wußten, daß diese Frauen vom Fuchs besessen waren, deshalb wagten wir nicht, sie aufzustören, sondern gingen in respektvollem Abstand an ihnen vorüber. Durch das häufige Zuhören konnten wir viele der Texte auswendig, und bei den Passagen, die wir nicht konnten, improvisierten wir einfach. Als ich etwas älter war, übernahm ich ab und zu kleine Rollen in den Amateurtheatergruppen unseres Dorfes, spielte kleine Schurken und dergleichen. Zu jener Zeit waren Revolutionsstücke an der Tagesordnung, wenn ich nicht einen Spion X spielte, spielte ich einen feindlichen Soldaten Y. Mit dem Ende der Kulturrevolution entspannte sich die Situation etwas, und wir konnten neben den revolutionären Modellopern auch wieder eigene, neue Stücke spielen. In dieser Zeit entstand unsere Katzenoper »Die Sandelholzstrafe«.
Tatsächlich war die Geschichte des Sun Bing und seines Widerstands gegen die Deutschen bereits zum Ende der Qing-Zeit und in der frühen Republikzeit Gegenstand von Katzenopern. Ein paar alte Theaterleute konnten sich noch an einige Verse aus den Arien erinnern. Da ich von klein auf gern Klatsch und Tratsch und unvollständige Erinnerungen in Verse verwandelt hatte, war ich ganz in meinem Element. Zusammen mit einem Onkelchen aus der Nachbarschaft, der zwar nicht lesen und schreiben, dafür aber Akkordeon spielen und wunderbar Gesang improvisieren konnte, schrieb ich die Oper »Die Sandelholzstrafe« in neun Akten. Dabei war uns ein Lehrer der Grundschule, ein Kunstliebhaber, der als Rechtsabweichler gebrandmarkt worden war, in
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