Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
aus den Kanonenrohren schießen sah und schon der nächste Knall zu hören war. Er sah die goldfarben glänzenden Geschoßhülsen hinter den Kanonen ins Gras fallen. Die Geschoßhülsen waren so heiß, daß sie das vertrocknete Gras versengten, aus dem weißer Rauch aufstieg. Dann ertönte wieder ein dreifacher Kanonendonner. Jetzt hatten die Infanteristen offenbar ihre Pflicht erfüllt und stellten sich mit den Händen an der Hosennaht hinter den Kanonen auf. Noch inmitten des Echos der donnernden Kanonenschläge erhob sich eine gebieterische Stimme: »Präsentiert das Gewehr!«
Hinter dem Richtplatz hoben die fünftausend Soldaten ihre Mannlicher-Gewehre über den Kopf – ein Wald aus stahlblau glänzenden Waffen. Zhao Jia war angesichts dieser imposanten Machtdemonstration sprachlos. Er hatte zwar in der Hauptstadt schon viele Male dem Drill der kaiserlichen Armee zugesehen, aber das hier war etwas anderes. Er fühlte sich schwach und eine große Unsicherheit überkam ihn. Es war, als hätte ihn das ganze Selbstvertrauen und Selbstverständnis aus seiner aktiven Zeit als Henker urplötzlich verlassen.
Die Soldaten und die hohen Offiziere zu Pferd behielten ihre aufrechte und respektvolle Haltung in Erwartung ihres obersten Truppenführers bei. Unter dem lauten Gerassel der Zymbaltrommeln und dem näselnden Klang der Suonas bahnte sich eine mit schwarzem Stoff verhängte Sänfte mit acht Trägern den Weg durch die von Pappeln gesäumte Allee, wie ein Kriegsschiff, das auf den Wellen treibt. Vor dem Exekutionspodest wurde sie sanft abgesetzt. Ein junger Kadett hielt den Ausstiegsschemel bereit und öffnete den Vorhang. Dieser entstieg ein hoher Funktionär mit roter Mütze, ein Mann von enormer Statur, großen Ohren, kantigem Gesicht und Schnauzbart. Zhao Jia erkannte Seine Exzellenz General Yuan Shikai, Befehlshaber des neuen Infanterieregiments, Nachfahre einer Familie von kaiserlichen Beamten, mit dem ihn seit dreiundzwanzig Jahren eine gewisse Freundschaft verband.
Yuan Shikai trug über seiner Militäruniform einen imposanten Fuchspelz. Er grüßte die Truppen mit erhobener Hand und nahm auf einem mit Tigerfell bezogenen Stuhl Platz. Der befehlshabende Offizier der Kavallerie rief mit lauter Stimme: »Gewehr ab!«
Wie ein Mann stellten die Soldaten die Gewehre auf dem Boden ab, ein ohrenbetäubender Lärm, der einem durch Mark und Bein ging. Ein junger Kommandant mit fleckigem Gesicht und gelben Zähnen, ein gefaltetes Papier in der Hand, näherte sich gebeugt Seiner Exzellenz Yuan, preßte seinen Mund dicht an dessen Ohr und flüsterte ihm etwas zu. Yuan Shikai zog die Augenbrauen zusammen und bog ein wenig den Kopf zur Seite, wie um dem schlechten Atem des Kommandanten zu entgehen, doch dessen fauliger Mund drängte sich nur noch dichter an sein Gesicht. Was Zhao Jia in diesem Moment nicht wußte und auch niemals hätte erraten können: Dieser magere, dunkelhäutige junge Mann mit den schlechten Zähnen war kein anderer als Zhang Xun, der sich später im ganzen Kaiserreich einen großen Namen als der »General mit dem Zopf« machen sollte. Zhao Jia hatte Mitleid mit General Yuan, der den zweifellos üblen Mundgeruch des Mannes ertragen mußte. Als er endlich zu Ende gesprochen hatte, nickte Yuan Shikai kurz und nahm seine vormalige Haltung wieder ein.
Zhang Xun sprang auf das Podium, von dem herab er den Inhalt des Zettels in seiner Hand vorlas: »Wir sind hier, um der Exekution des Verurteilten Qian Xiongfei, genannt Pengju, beizuwohnen. Der Verbrecher Qian stammt aus Yiyang in der Provinz Hunan und ist achtundzwanzig Jahre alt. Im Jahr 1896, dem 21. Regierungsjahr des Kaisers Guangxu, ging er zum Studium an eine Militärschule nach Japan. Dort schnitt er sich heimlich den Zopf ab und gehörte zu einer Gruppe von Verschwörern in einem Komplott gegen das Qing-Reich. Nach seiner Rückkehr in die Heimat stand er in enger Verbindung mit der umstürzlerischen Partei des Kang Youwei und des Liang Qichao. Unter dem Einfluß von Kang Youwei trat er schließlich als Spion in die Rechte Armee des Kaisers ein und gab Informationen an die Rebellen weiter. Die Partei, die im Jahr 1898 versuchte, unser Reich in ein Chaos zu stürzen, wurde noch im gleichen Jahr liquidiert und ihre Anführer in der Hauptstadt hingerichtet. Die Trauer um seine Verbündeten entfachte im Verurteilten einen großen Haß, der ihn zu dem ungeheuren Frevel anstiftete, am elften Tag des zehnten Monats dieses Jahres ein Attentat auf
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