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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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um seinen Geist und seine ganze physische Kraft in seinem rechten Handgelenk zu konzentrieren. Er spürte, wie das Schwert in seiner Hand mit ihm zu einem Ganzen verschmolz. Er faßte mit der linken Hand das Ende von Liu Guangdis Zopf und zog dessen Kopf daran weit nach vorn, bis sich die Haut seines Nackens spannte. Dank seiner langjährigen Erfahrung konnte er sofort die ideale Schnittlinie auf Lius Hals ausmachen. Er drehte sich nach rechts und wollte gerade mit einem eleganten Schwung die Klinge in Richtung Hals hinabsausen lassen, da hörte er aus den Reihen der Zuschauer einen langgezogenen Schrei: »Vater!«
    Ein junger Mann mit zerzaustem Haar versuchte die Reihen der Soldaten zu durchbrechen. Zhao Jia ließ das Schwert, das Liu Guangdis Hals schon fast berührt hatte, sinken. In seinem Handgelenk spürte er die ganze Schwere des blutrünstigen »Großen Generals«. Der sich da zum Podest durchboxte, war kein anderer als Lius Sohn Liu Pu, den er vor nicht allzu langer Zeit in dem kleinen Tempel am Xizhi-Tor kennengelernt hatte. Ein über all die Jahre von seinem strengen Sinn für Professionalität konsequent unterdrücktes, nie dagewesenes Gefühl von Mitleid bemächtigte sich Zhao Jias und überschwemmte sein Herz. Die Soldaten, die aus einem Moment der tumben Erstarrung aufschreckten, hoben ihre mit roten Quasten geschmückten Speere und rannten hinter Liu Pu her. Der Exekutionsaufseher Gang Yi geriet in Panik und schrie mit schriller Stimme: »Haltet ihn ... haltet ihn ...!« Die Wachen stürmten auf das Schafott. Doch bevor sie ihn erreichten, hatte sich Liu Pu schon vor Gang Yi auf den Boden geworfen und machte Kotaus. Die Soldaten hielten inne. Es war ein Bild des Jammers. »Exzellenz, habt Erbarmen«, flehte der junge Mann. »Laßt mich anstelle meines Vaters sterben ...!«
    Liu Guangdi hob den Kopf und rief mit tränenerstickter Stimme: »Pu'er, mein Sohn, was redest du da für einen Unsinn!«
    Liu Pu rutschte auf Knien näher und blickte schluchzend zu seinem Vater auf: »Vater, bitte laßt Euren Sohn für Euch sterben ...«
    »Mein Sohn«, seufzte Liu Guangdi mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Bitte halte nach meinem Tod keine große Trauerzeremonie für mich ab. Wenn Verwandte und Freunde Beileidsgeschenke machen wollen, nimm nichts davon an. Es ist nicht nötig, meinen Sarg in die Heimat zu überführen, beerdigt mich irgendwo in der Nähe. Und wenn das erledigt ist, geh so schnell wie möglich mit deiner Mutter nach Sichuan zurück, bleibe auf keinen Fall länger in Beijing. Sorge dafür, daß meine Nachkommen studieren und die Welt zu begreifen lernen, aber laß sie auf keinen Fall die staatlichen Prüfungen absolvieren und Beamte werden. Daß ist mein letzter Auftrag an dich als Vater. Und nun gehe schnell zurück und lasse mein Schicksal seinen Lauf nehmen.« Nach diesen Worten schloß er die Augen, streckte den Nacken und sagte zu Zhao Jia: »Mein guter Zhao, tu deine Arbeit und, im Namen der kurzen Freundschaft, die uns verband, tu sie schnell!«
    Zhao Jia brannten die Augen und er mußte sich beherrschen, nicht in Tränen auszubrechen. Leise sagte er: »Exzellenz, seid unbesorgt.«
    Liu Pu schrie auf und rutschte auf den Knien zu Gang Yi: »Exzellenz ... Exzellenz ... laßt mich für meinen Vater sterben ...«
    Gang Yi hob den Arm, bedeckte sein Gesicht mit dem Ärmel und sagte: »Schafft ihn fort!«
    Einige Soldaten kamen, ergriffen den bis zur Besinnungslosigkeit weinenden Liu Pu an den Armen und zogen ihn weg.
    »Die Strafe werde ausgeführt«, befahl Gang Yi noch einmal.
    Zhao Jia packte erneut Liu Guangdis Zopf und flüsterte ihm zu: »Exzellenz, ich bitte Euch aufrichtig um Vergebung!« Dann schlug er mit einer blitzschnellen, halbkreisförmigen Drehung seines Körpers zu und Liu Guangdis Kopf fiel ihm in die Hand.
    Der Kopf schien besonders schwer zu wiegen, viel schwerer als all die Köpfe, die der Henker in all den Jahren zuvor abgeschlagen hatte. Seine beiden Hände, die Hand, die das Schwert hielt, und die Hand, die den Kopf hielt, fühlten sich müde und entzündet an. Er hob Lius Kopf in die Höhe und rief laut: »Seine Exzellenz möge sich von der Ausführung der Strafe überzeugen!«
    Gang Yi warf nur einen kurzen Blick Richtung Podest und wandte sich wieder ab.
    Gemäß den Bestimmungen mußte der Kopf nun der Menge der Schaulustigen weiter hinten präsentiert werden. Einige der Leute applaudierten, andere weinten und jammerten. Liu Pu war in Ohnmacht gefallen. Zhao Jia sah,

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