Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
Sechs Heroen die Stufen hinauf. Das Klagelied der Suonas wollte kein Ende nehmen, mit jedem Ton klang es kummervoller. Den Musikern stand der Schweiß auf der Stirn, und ihre Backen waren aufgeblasen wie Ballons. Zhao Jia warf einen Blick auf die in einer Linie aufgereihten Sechs Heroen. Jeder von ihnen trug einen unterschiedlichen Gesichtsausdruck zur Schau. Tan Sitong schaute mit vorgerecktem Kinn gen Himmel, auf seinem mageren, dunklen Gesicht lag ein Ausdruck großer Feierlichkeit. Gleich neben ihm stand der junge Lin Xu. Aus dessen kleinem Gesicht war alle Farbe gewichen, seine blassen, dünnen Lippen zitterten ohne Unterlaß. Der große und kräftige Yang Shenxiu hatte den eckigen Kopf zur Seite geneigt und aus seinem schiefen Mund rann Speichel. Der hübsche Kang Guangren schniefte nervös und wischte sich immer wieder mit dem Ärmel die Tränen und den Rotz aus dem Gesicht. Yang Rui, ein kleiner, drahtiger Typ, ließ seine pechschwarzen Augen über die um das Podest versammelte Menge schweifen, als hielte er nach alten Weggefährten Ausschau. Liu Guangdi, von imposanter Größe, wirkte ruhig und gefaßt. Er blickte zu Boden, und ein Glucksen drang aus seiner Kehle.
Es war kurz vor zwölf Uhr mittags. Hinter der Tribüne hatte man einen Stab aus Pinienholz aufgestellt, um den Einfall der Sonne zu messen. Der Schatten der Sonne befand sich bereits fast im rechten Winkel mit dem Stab. Es war ein wunderbarer Herbsttag mit wolkenlosem, azurblauem Himmel. Der rote Teppich auf der Richttribüne, die roten Umhänge der Beamten, die die Hinrichtung überwachten, die roten Fahnen und roten Sonnenschirme der Ehrengarde, die roten Hüte der Beamten, die roten Quasten an den Hüten der Kavalleristen, der mit roter Seide umwickelte Griff des »Großen Generals« – all dieses Rot glühte im herrlichen Licht der Sonne wie ein lebendiges Feuer. Ein großer Schwarm weißer Tauben kreiste über dem Ort der Hinrichtung, man hörte das Schlagen ihrer Flügel und ihr helles Gurren. Tausende von Zuschauern wurden von Soldaten auf ein Gelände in etwa hundert Metern Abstand von dem Podest zurückgedrängt. Von dort reckten sie die Hälse und erwarteten gespannt den großen Augenblick. Für einige bedeute er nur Unterhaltung oder Aufregung, für andere eine Katatrophe.
Auch Zhao Jia wartete. Er hoffte, daß der Befehl zur Hinrichtung rasch käme, die Sache schnell vorbei wäre und er nach Hause gehen könnte. Der Anblick der Sechs Heroen bereitete ihm Unwohlsein. Auch wenn sein Gesicht bereits unter einer dicken Schicht Hühnerblut lag wie unter einer Maske, fühlte er sich nervös, schämte sich sogar, als ob er vor aller Augen in der Unterwäsche dastünde. Zum ersten Mal in seiner langen Karriere als Scharfrichter fehlten ihm seine Ruhe und seine Gleichgültigkeit. Normalerweise mußte er sich nur seinen roten Mantel überziehen und sein Gesicht mit Hühnerblut beschmieren, und schon fühlte er sein Herz erkalten wie einen schwarzen Stein auf dem Grund eines tiefen Sees. Während des Hinrichtungsprozesses schlief seine Seele im tiefsten und kältesten Winkel dieses Steines; während er seines Amtes waltete, war er nur noch eine kalte und gefühllose Tötungsmaschine. Deshalb hatte er auch nach jeder Hinrichtung, sobald er sich Hände und Gesicht gewaschen hatte, gar nicht das Gefühl, soeben einen Menschen getötet zu haben. Es geschah alles in einem Zustand der Benommenheit, halb wachend und halb träumend. Heute jedoch hatte er das Gefühl, daß die harte Maske aus Hühnerblut von ihm abbröckelte wie die Farbschicht einer Mauer nach einem Platzregen. Die den Adern des Steins verborgene Seele begehrte auf, und alle möglichen Gefühlsregungen bemächtigten sich seiner: Mitleid, Furcht, Rührung ... Wie kleine Bäche bahnten sie sich den Weg durch die Adern des Steins nach draußen. Ihm war klar, daß ein exzellenter Scharfrichter sich auf dem würdevollen Hinrichtungspodest keine Schwächen erlauben durfte. Wenn Kälte als Gefühl zählte, dann war sie das einzige Gefühl, das ihm erlaubt war. Alles andere würde seinem Ruf schaden, der über die Landesgrenzen hinaus reichte. Er wagte nicht, den Sechs Heroen direkt ins Gesicht zu sehen, vor allem nicht Liu Guangdi, dem ehemaligen Beamten des Tribunals, mit dem er eine ungewöhnliche und aufrichtige Freundschaft etabliert hatte. Er mußte nur dessen Augen, aus denen die Flammen des Zorns loderten, begegnen, und schon wurden seine Hände feucht von kaltem Schweiß. Er
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