Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
nicht gemeint, Bruder«, hatte Xiongfei geantwortet.
»Wie hast du es denn gemeint?«
»Meiner Meinung nach muß China das alte Beamtenprüfungssystem abschaffen, wenn es Fortschritte machen will, und statt dessen moderne Schulen aufmachen. Die Prüfung im achtgliedrigen Aufsatz muß abgeschafft werden. Wir brauchen Unterricht in den modernen Wissenschaften. Es wird Zeit, daß eine frische Strömung dieses trübe Wasser in neue Bahnen lenkt. China muß sich reformieren, sonst wird es früher oder später zugrunde gehen! Und dafür gilt es, vom Ausland zu lernen. Ich bin entschlossen zu gehen, Bruder, und selbst du wirst mich nicht davon abhalten.«
Der ältere Bruder hatte einen tiefen Seufzer ausgestoßen: »Jeder Mensch hat seine eigenen Ziele, und man soll ihm bei deren Verwirklichung nicht im Wege stehen. Aber ich bin immer noch der Meinung, daß für den gesellschaftlichen Aufstieg nur der Erfolg bei den Palastexamen zählt. Alles andere ist nichts als Häresie. Selbst wenn du es zu einem hohen Posten bringst, wird man auf dich herabschauen ...«
»Verehrter Bruder, in Zeiten des Aufruhrs wie diesen zählt die Kriegskunst. Nur in Zeiten des Friedens kann man es sich leisten, der Kultur mehr Bedeutung beizumessen. Mit dir hat unsere Familie schon einen Doktor hervorgebracht, das genügt. Dann kann ich, der Jüngere, ruhig eine militärische Ausbildung machen.«
Seufzend erwiderte der andere: »Doktor, ach ja, das ist auch nichts weiter als ein Titel. Es heißt nichts anderes, als stets eine gefütterte Amtsrobe unter dem Arm geklemmt mit sich zu führen und in einem Yamen vor sich hinzuvegetieren, auf den Punkt gegarten, weißen Reis zu essen und ein halbes Entenei dazu.«
»Wenn das so ist, warum willst du dann, daß auch ich den Weg in diese Sackgasse nehme?«
Mit einem bitteren Lachen hatte der Bruder gesagt: »So reden wir eben, wir lebende Leichen ...«
Der Wind wurde stärker, der Fluß hatte graue Wellen. Xiongfei erinnerte sich an den Tag, als er Jahre später mit einem kleinen Dampfschiff namens Pusan aus Japan zurückgekehrt war, in der Tasche ein Empfehlungsschreiben von Kang Youwei, mit dem er bei Yuan Shikai vorstellig wurde ...
3.
Als er damals im herbstlichen Xiaozhan eintraf, hatte über den endlosen Reisfeldern der Duft ihrer goldenen Ähren gelegen. Bevor er sich Yuan Shikai offiziell vorstellte, hatte er zunächst zwei Tage inkognito in Xiaozhan verbracht, um sich mit seinem geschulten Blick einen Eindruck zu verschaffen. Er beobachtete die neue Armee beim täglichen Exerzieren und mußte feststellen, daß sie tatsächlich äußerst diszipliniert war und über modernste Waffen verfügte. Diese Armee hatte Stil und Schmiß, sie war von geradezu modellhaftem Charakter. Mit der korrupten und unfähigen Armee aus alten Tagen hatte sie wirklich nichts mehr gemein. Von ihr ließ sich auf das gewichtige Format ihres Befehlshabers schließen. So kam es, daß Xiongfei bereits vor ihrem ersten Zusammentreffen eine tiefe Bewunderung für Seine Exzellenz Yuan hegte.
Yuan Shikais Residenz lag nur zwei Pfeilschuß weit von den Baracken der Soldaten entfernt. Auf beiden Seiten des hohen Torbogens waren vier hochgewachsene Wachmänner postiert. Sie trugen Lederstiefel und Wickelgamaschen, um die Hüften Patronengürtel aus Rindsleder. In den Händen hielten sie Hinterlader aus deutscher Manufaktur, deren Stahl so blau glänzte wie Schwalbenflügel. Xiongfei händigte dem wachhabenden Offizier Kang Youweis Schreiben aus, worauf dieser ihn meldete.
Yuan Shikai war gerade beim Essen. Er wurde dabei von zwei hübschen Mädchen bedient.
»Exzellenz, ich entbiete Euch meinen Gruß!« Er hatte sich weder niedergekniet noch eine Verbeugung gemacht, sondern in strammer Haltung mit erhobener rechter Hand nach Art eines japanischen Offiziers salutiert.
Er bemerkt die subtile Veränderung, die in Yuans Miene vor sich ging. Zuerst schien er verärgert zu sein, dann musterte er sein Gegenüber mit einem kühlen Blick. Schließlich machte er ein zufriedenes Gesicht und bedachte ihn mit einem anerkennenden Kopfnicken. »Bringt einen Stuhl!« befahl er.
Xiongfei wußte, daß sein wohlbedachter Auftritt Eindruck auf Seine Exzellenz gemacht hatte. Eine der beiden Konkubinen schleppte einen Stuhl herbei. Dieser war so schwer, daß die Frau alle Mühe hatte, ihn zu bewegen. Xiongfei hörte das leise Keuchen der schönen Frau und nahm den Orchideenduft wahr, den ihr Nacken verströmte. Er stand stramm und sagte: »In
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