Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
Wie ein Schwarm Schwalben fächerten sich hinter ihm sechzig reihenweise gruppierte Kriegspferde auf, geritten von der absoluten Elite der jungen Garde. Die sechzig Reiter schulterten ihre dreizehnschüssigen Schnellfeuergewehre deutschen Fabrikats, reckten die Brust und zogen die Bäuche ein und blickten stramm geradeaus. Daß ihre Haltung ein wenig affektiert wirkte, tat dem beeindruckenden Bild, das die Armee bot, keinen Abbruch.
Es war kurz vor Mittag, aber von dem Dampfschiff, auf dem Seine Exzellenz Yuan eintreffen sollte, war noch keine Spur zu sehen. Auf dem breiten Fluß trieb kein einziges Fischerboot; nur die weißgefleckten Möwen flatterten nahe den Ufern in der Luft oder sie ließen sich mit der Strömung im Wasser treiben. Es war bereits Spätherbst und die Bäume hatten ihr Laub abgeworfen. Nur ein paar Eichen und Ahornbäume, an denen noch die letzten leuchtendroten und goldgelben Blätter hingen, zierten die sandigen Ufer des Hai und bildeten einen Lichtblick inmitten der herbstlichen Tristesse. Am Himmel trieben zerklüftete Wolken, und der feuchte Wind aus Nordost brachte den salzigen Geschmack des Bohai-Meeres mit sich. Die Pferde wurden immer jähzorniger, scharrten mit den Hufen, schnaubten mit ihren Nüstern und schlugen mit den Schweifen. Qian Xiongfei hatte alle Mühe, sein Pferd zu bändigen, das immer wieder den Kopf nach unten bog, um ihn in die Knie zu beißen. Er warf einen verstohlenen Blick auf die anderen hochrangigen Offiziere neben ihm. Ihre Gesichter waren blau angelaufen; der feuchtkalte Herbstwind des zehnten Monats des Mondkalenders war ihnen offenbar durch die Uniformen hindurch in die Knochen gefahren. Xu Shichang lief die Nase, Zhang Xun gähnte mit tränenden Augen und Duan Qirui ruckelte auf seinem Pferd herum, als würde er jeden Moment herunterfallen. Die übrigen sahen noch erbärmlicher aus. Qian Xiongfei verabscheute seine Kameraden aus tiefster Seele und schämte sich, dieser Truppe anzugehören. Auch wenn er erschöpft war, achtete er mit strenger Selbstdisziplin darauf, die würdevolle Haltung eines Offiziers zu wahren. Die beste Art, sich die zermürbende Wartezeit zu vertreiben, war, seine Gedanken schweifen zu lassen. Während er auf die majestätisch breiten Wasser des Hai starrte, zogen vor seinem inneren Auge die Bilder der Vergangenheit vorüber.
2.
»Kleiner Liebling! Kleiner Liebling!« Eine vertraute, liebevolle Stimme hallte in Xiongfeis Ohren wider, einmal zum Greifen nah, einmal ganz weit weg, als wollte sie mit ihm Verstecken spielen. Die Stimme rief die Erinnerung an seine Kindheit in der Heimat wach, als er sich mit seinem großen Bruder auf den Wegen zwischen den Feldern ausgelassene Verfolgungsjagden geliefert hatte. Er sah seinen Bruder in diesem unschuldigen Fangspiel immer größer und deutlicher werden. Er versuchte, an ihn heranzukommen und an seinem pechschwarzen Zopf zu ziehen. Er hatte ihn schon mit den Fingerspitzen berührt, aber der Zopf entwischte ihm immer wieder, indem er geschmeidig davonsprang wie ein schwarzer Drache. Als er ungeduldig und ärgerlich mit den Füßen aufstampfte, drehte sich der Bruder plötzlich um – und hatte sich unvermittelt von einem Halbwüchsigen mit glattem Kinn in einen ansehnlichen kaiserlichen Beamten mit einem prächtigen Bart verwandelt. Kurz vor der Aufnahme seines Studiums in Japan hatte es einen Streit zwischen ihnen gegeben. Sein Bruder war ganz und gar nicht damit einverstanden gewesen, daß er die traditionelle Beamtenlaufbahn aufgeben wollte. Doch Xiongfei hatte ihm entgegnet: »Die Absolventen der kaiserlichen Beamtenprüfungen sind doch allesamt nichts als lebende Leichen!«
Der Bruder hatte daraufhin so zornig auf den Tisch geschlagen, daß der Tee aus den Tassen schwappte. »Unverschämtheit!« Sein Bart hatte gezittert und blinde Wut seine vornehmen Gesichtszüge entstellt. Doch etwas später hatte er eingelenkt. Resigniert hatte er gesagt: »Gut, wenn du meinst – aber dann mußt du dich fragen, ob nicht auch unsere unzähligen Heiligen und Halbgötter des Altertums nichts weiter als lebende Leichen sind. Wen Tianyang und Lu Fangweng, die du so sehr verehrst, eingeschlossen! Und die werten Hüter unserer gegenwärtigen Dynastie, Zeng Wenzhang, Li Hongzhang oder Zhang Zhidong sind auch nicht mehr wert. Unsere ganze einfältige Beamtenbrüderschaft ist letztendlich nicht mehr als ein einziger starrer Leichnam, von ›lebend‹ zu reden, wäre ein Euphemismus.«
»So habe ich es
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