Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
übertriebener Vorsicht den Kang hinauf. Sie fühlten sich nicht recht wohl in ihrer Haut. Zhao Jia füllte einen Becher mit Wein, kniete sich hin, hielt den Becher mit beiden Händen vor Liu Guangdi in die Höhe und sagte: »Exzellenz Liu, Eure ergebenen Diener erheben ihren Becher zu Euren Ehren und wünschen Euch Macht und Reichtum!«
Liu Guangdi nahm den Becher, trank ihn in einem Zug leer, leckte sich die Lippen und sagte: »Ha, ein wirklich guter Wein! Trink auch du!«
Nachdem Zhao Jia ebenfalls einen Becher getrunken hatte, fühlte er angenehme Hitzewellen in sich aufsteigen.
Liu Guangdi hob seinen Becher und sagte: »Mein guter Zhao, neulich hatte ich großes Glück, daß du mich nach Hause gebracht hast, dafür schulde ich dir einen Gefallen. Kommt, füllt eure Becher, ich möchte mit euch allen anstoßen!«
Aufgeregt leerten die Henker ihre Becher. Mit Tränen in den Augen sagte Zhao Jia: »Exzellenz, seit der Erschaffung der Welt durch Pangu, seit der Zeit der Drei Erhabenen Urherrscher und der Fünf Urkaiser hat es das noch nicht gegeben, daß ein Beamter mit den Henkern des Tribunals auf das Neue Jahr anstößt. Freunde, hebt die Becher und trinkt auf das Wohl Seiner Exzellenz!«
Alle Henker knieten auf dem Kang, hoben ihre Becher und prosteten Liu Guangdi zu.
Dieser stieß mit jedem von ihnen an und sagte mit leuchtenden Augen: »Freunde, ich sehe, was für tüchtige und kräftige Männer ihr alle seid. Für eure Art von Beruf braucht man in der Tat gehörigen Mut. Wer ein mutiges Herz hat, der hat auch großen Durst, also nur zu, trinkt!«
Mit jeder Runde wurden die Henker lebhafter und entspannter und machten es sich bequem. Reihum prosteten sie Liu Guangdi zu und zeigten, was für tüchtige Esser und Trinker in ihnen steckten. Der Beamte zeigte nicht den mindesten Dünkel und kaute genüßlich Speck in Sojasauce, so daß ihm das Fett das Kinn hinunterlief.
Schließlich hatten sie die ganze Platte mit Fleisch aufgegessen und den Krug mit Wein leer getrunken und hatten einen gehörigen Schwips. Zhao Jia strahlte über das ganze Gesicht. Liu Guangdi hatte feuchte Augen. Die Große Tante redete wirres Zeug, die Zweite Tante hatte die Augen geschlossen und schnarchte, und die Dritte Tante lallte mit steifer Zunge irgend etwas Unverständliches vor sich hin.
Der Beamte ließ sich langsam vom Kang hinabgleiten und rief immerzu: »So ein Spaß, war das ein Spaß!«
Zhao Jia half ihm, die Schuhe anzuziehen, und die Neffen halfen ihm in seine Jacke und setzten ihm die Kappe auf. In Begleitung der Henker begutachtete Liu Guangdi auf unsicheren Beinen die Ausstellung mit den Folterinstrumenten im Nebenraum. Als sein Blick auf den »Großen General« fiel, dessen Griff mit roter Seide umwickelt war, fragte er plötzlich: »Großmutter Zhao, wie viele Köpfe mit roten Beamtenkappen sind damit schon abgehackt worden?«
Zhao Jia antwortete: »Ich habe sie nicht gezählt ...«
Liu Guangdi fuhr prüfend mit den Fingern über die rostige Schneide und sagte: »Dieses Messer ist überhaupt nicht scharf.«
»Exzellenz, das menschliche Blut beeinträchtigt die Qualität der Schneide, doch vor jeder Enthauptung schleifen wir sie gründlich«, entgegnete Zhao Jia.
Liu Guangdi sagte lachend: »Großmutter Zhao, wir können ja jetzt als alte Freunde gelten, nicht wahr? Sollte ich dir eines Tages in die Hände fallen, dann schleife dieses Instrument bitte so scharf, wie es eben geht.«
»Exzellenz ...« Zhao Jia war peinlich berührt. »Ihr seid doch die Ehrlichkeit in Person, Euer Benehmen ist vorbildlich. Ihr seid integer ...«
»Das vorbildliche Benehmen liefert euch ans Messer und für moralische Integrität wird man in Stücke gehackt!« rief Liu Guangdi heftig aus. »Großmutter Zhao, gibst du mir dein Wort darauf?«
»Exzellenz ...«
Schwankend verließ Liu Guangdi den östlichen Seitenflügel. Die Henker sahen ihm lange nach.
4.
Unter den klagenden Melodien von zwölf Suonas stiegen die Sechs Heroen von 1898, die sich im ganzen Reich einen Namen gemacht hatten, von dem heruntergekommenen Hinrichtungskarren, und begleitet von zwölf uniformierten Helfern stiegen sie die Stufen zum Hinrichtungspodest hinauf.
Auf dem Podest war ein neuer roter Filzteppich ausgebreitet worden, darum herum hatte man eine dicke Schicht gelben Löß aufgehäuft. Der Anblick dieser erfrischenden Neuerung vermochte den Ersten Foltermeister Zhao Jia ein klein wenig zu trösten. In Begleitung seines Lehrlings stieg er nach den
Weitere Kostenlose Bücher