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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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richtete seinen Blick nach oben auf die weißen Tauben, die unaufhörlich über dem Platz kreisten, und das Flattern ihrer Flügel machte ihn schwindeln. Der Beamte, der heute mit der Überwachung der Exekution beauftragt war, Seine Exzellenz Gang Yi, blinzelte mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne, dann warf er einen kurzen Blick auf die Sechs Heroen, um schließlich mit zitternder Stimme auszurufen: »Die Stunde ist gekommen ... Die rebellischen Beamten mögen dem Himmel für seine Gnade danken ...«
    Zhao Jia drehte sich um, als hätte er den kaiserlichen Befehl zu einer Amnestie erhalten, und empfing aus den Händen seines Gehilfen den »Großen General«, dieses eigens für die Enthauptung hochrangiger Beamter vorgesehene Instrument. Eigens für Seine Exzellenz Liu, dem er Zuneigung und Respekt entgegenbrachte, hatte er selbst Hand angelegt und die ganze Nacht damit zugebracht, die Klinge so unvergleichlich scharf zu schleifen, daß sie ein Haar im Flug zerteilen konnte. Er trocknete sich die schweißnassen Hände an seiner Kleidung ab, nahm das Schwert in die rechte Hand und hielt es vor der Brust.
    Man hörte die Sechs Heroen weinen oder auch nur aufstöhnen.
    Zhao Jia wies sie ausgesprochen höflich zurecht: »Ich bitte die Exzellenzen, ihre Plätze einzunehmen.«
    Tan Sitong wandte sich mit einem lauten Appell an das Publikum: »Auch wer den Mut hat, die Verbrecher umzubringen, die uns regieren, wird nicht die Kraft haben, unser Land zu retten. Doch nichts ist besser, als für eine gerechte Sache zu sterben. Also komm, süßer Tod!«
    Nach diesem Ausruf brach er in ein heftiges Husten aus. Er hustete so sehr, daß sein Gesicht blau anlief und ihm das Blut in die Augen schoß. Er machte den Anfang und kniete sich hin, stützte die Hände auf den Boden und machte den Nacken lang. Sein Zopf hing offen bis zum Boden herab.
    Einer nach dem anderen kniete sich nun resigniert neben ihn nieder, Lin, die beiden Yangs und Kang. Lin Xu heulte und schluchzte wie ein kleines Mädchen, dem ein großes Unrecht geschehen ist. Kang Guangren stieß ein lautes Wehklagen aus und schlug dabei mit der flachen Hand auf den Boden. Yang Shenxiu ließ seinen Blick auch noch als er beide Hände auf dem Boden hatte über die Anwesenden schweifen, ohne daß man noch erfahren hätte, was oder wen er suchte. Liu Guangdi war der einzige, der hocherhobenen Hauptes stehenblieb und sich weigerte, niederzuknien. Zhao Jia starrte auf Lius zerschlissene Schuhe und drängte beklommen: »Exzellenz ... Nehmt bitte Euren Platz ein ...«
    Liu Guangdis Augen weiteten sich vor Zorn. Er starrte Gang Yi, den Beamten, der zur Überwachung der Exekution direkt neben der Tribüne saß, an und rief mit rauher Stimme: »Warum befragt Ihr die Leute nicht, bevor Ihr sie enthauptet?«
    Gang Yi wagte nicht, Liu Guangdi direkt anzublicken und drehte rasch sein feistes, dunkles Gesicht weg.
    »Warum werden wir nicht befragt? Gibt es in diesem Land noch Gesetze?« Liu Guangdi ließ nicht locker.
    »Ich habe lediglich den Befehl, diese Exekution zu überwachen. Von den anderen Dingen weiß ich nichts. Ich bitte Bruder Peicun um Verständnis ...«, sagte Gang Yi mit beschämter Miene.
    Yang Rui, der neben Liu Guangdi kniete, zog an Lius Gewand und sagte: »Peicun, komm, laß es gut sein. Wir können doch nichts mehr ändern! Gehorche einfach und knie dich hin.«
    »Ach, du große Qing-Dynastie!« rief Liu Guangdi aus, strich sein Gewand glatt und kniete nieder. Unterhalb der Bühne proklamierte der Sekretär, der hinter dem diensthabenden Aufseher stand, mit lauter Stimme: »Kotau vor der Gnade des Kaisers!«
    Nur vier der Sechs Heroen folgten dem Befehl und machten wie in Trance drei Kniefälle und neun Kotaus. Tan Sitong und Liu Guangdi hielten trotzig die Hälse steif und verweigerten sich dem Ritual.
    Erneut ertönte der Befehl: »Kotau vor der Gnade des Kaisers!«
    Diesmal ließen alle sechs gleichzeitig ihre Stirn auf den Boden sinken. Tan Sitong schlug mehrmals mit dem Kopf auf den Boden und schrie dabei verzweifelt: »Majestät, Majestät, wie konntet Ihr nur so kurz vor dem Ziel aufgeben!«
    Liu Guangdis Kotau hallte wie ein Donnerschlag. Tränen rannen über sein hageres Gesicht.
    Gang Yi befahl: »Die Strafe werde ausgeführt!«
    Zhao Jia beugte sich tief über die sechs Männer und sagte mit leiser Stimme: »Ich werde die Exzellenzen zu dem Platz zurückkehren lassen, der ihnen gebührt.«
    Er holte tief Luft und warf all seine Grübeleien über Bord,

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