Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
daß die Augen Liu Guangdis weit geöffnet waren. Seine Augenbrauen waren wie vertikale schwarze Striche. Sein Kiefer schien sich noch zu bewegen, und seine Zähne knirschten. Zhao Jia war sicher, daß Lius Gehirn noch aktiv war und er mit wachen Augen seinen abgetrennten Rumpf betrachtete. Der Arm, mit dem er den Kopf herumzeigte, wurde ihm schwer. Der Zopf, an dem er ihn hielt, war von Schweiß und Blut glitschig und schmierig geworden wie ein Aal und drohte ihm aus den Fingern zu rutschen. Er sah noch ein paar Tränen aus Liu Guangdis Augen quellen, dann erlosch der Blick wie ein nächtliches Kohlenfeuer und verlor seinen Glanz.
Der Henker legte den Kopf auf einen Tisch. Der Gesichtsausdruck wirkte nun friedlich, und Zhao Jia fiel ein Stein vom Herzen. Leise murmelte er vor sich hin: »Exzellenz Liu, ich habe meine Arbeit präzise ausgeführt und Euch nicht allzusehr leiden lassen. Also ist unsere Freundschaft doch nicht umsonst gewesen.« Dann enthauptete er mit der gleichen Methode auch Tan, Lin, Kang und die beiden Yangs. Mit seiner absolut präzisen scharfrichterlichen Technik erwies er den Sechs Heroen seine Reverenz.
Nach dieser aufsehenerregenden Exekution gab es in der Hauptstadt viel Gerede. Die beherrschenden Themen des Stadtgesprächs waren die hohe technische Versiertheit des Henkers und die Haltung der Sechs Heroen auf dem Schafott. Man erzählte sich, daß aus den Augen Liu Guangdis noch nach seiner Enthauptung Tränen geflossen seien und sein Mund fortgesetzt Verwünschungen gegen den Kaiser ausgerufen habe. Tan Sitongs Kopf habe noch lange nach seiner Trennung vom Rumpf klassische Gedichte in perfektem Versmaß rezitiert.
So gelangte Zhao Jia zu unverhofftem Ruhm. Der so althergebrachte Beruf des Henkers, der gesellschaftlich nie viel gegolten hatte, geriet zum ersten Mal ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit. Zhao Jia war nun beinahe ein angesehener Mann. Der Wind trug das allgemeine Gerede bis an den Hof, bis zu den Ohren der Kaiserinwitwe Cixi, und ebnete den Weg für Zhao Jias gesellschaftlichen Aufstieg.
Kapitel 11:
Die vergoldeten Pistolen
1.
Zur Begrüßung Seiner Exzellenz Yuan Shikai, Vize-Justizminister und Oberster Überwachungskommissar der Provinz Hebei, bei seiner Rückkehr in die Hauptstadt, wo er der erneut zur mächtigsten Person im Kaiserreich aufgestiegenen Kaiserinwitwe Cixi gratulieren und Geschenke zu ihrem Geburtstag überreichen wollte, trafen die ranghohen Offiziere der Rechten Kaiserlichen Armee, die in der Garnisonsstadt Xiaozhan bei Tianjin stationiert waren, in Begleitung des militärischen Musikcorps und der Kavallerie in den frühen Morgenstunden am Pier des Flusses Hai ein.
Zum Begrüßungskomitee gehörten auch die Militärberater Xu Shichang und Feng Guozhang, die beide einmal Präsidenten der Republik China werden sollten, Zhang Xun, Gouverneur der Jangtse-Region, der später als »General mit dem Zopf« versuchen sollte, den Kaiser wieder auf den Thron zu setzen, Duan Zhigui, später Zweiter Regimentskommandeur der republikanischen Armee, Duan Qirui, einer der späteren Premierminister der Republik, Xu Bangjie, der spätere Direktor des Präsidialamts, und Wang Shizhen, der mehrmals das Kriegsministerium der Republik bekleiden sollte, bevor er deren Premierminister wurde ... Zu jener Zeit waren sie blutjunge, mehr oder weniger ambitionierte Offiziere, die sich freiwillig zum Chinesisch-Japanischen Krieg gemeldet hatten, und keiner von ihnen hätte sich träumen lassen, daß das Schicksal ihres Landes in den kommenden Jahrzehnten in ihren Händen liegen würde.
Einer unter ihnen war allen anderen an Bildung und Charakterstärke überlegen. Dieser Mann hieß Qian Xiongfei, und war Kommandeur des Kavallerieregiments Yuan Shikais. Er gehörte zu der ersten Gruppe chinesischer Studenten, die zu einem Auslandsstudium nach Tokio geschickt worden waren, und hatte ein Diplom an einer japanischen Militärakademie erworben. Er war groß und schlank, hatte wache Augen unter buschigen Augenbrauen und blendendweiße, gerade Zähne. Er rauchte nicht, trank nicht, frönte nicht der Spielleidenschaft und ging nicht ins Bordell, kurzum: er war ein Mann von strenger Selbstdisziplin. Sein scharfer Verstand und sein unübertreffliches Talent als Schütze ließen ihn in der Achtung Yuan Shikais weit oben rangieren. An jenem Tag ritt er einen Schimmel und präsentierte sich in makelloser Uniform und blitzblanken Stiefeln. An seiner Hüfte hingen zwei goldfarbene Pistolen.
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