Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
versammelten Rindsledermützen und Ziegenbärte. Diese erhoben sich zitternd, hoben zitternd ihre Weinbecher und zitternd leerten sie sie in einem Zug. Schließlich lenkte er die Aufmerksamkeit der ehrwürdigen Herrschaften eigens auf die Mitte des Tisches. Dort lag ein großer jadegrüner Kohlkopf, der frisch und roh aussah, als hätte man ihn eben vom Feld geholt. Niemand hatte sich bis jetzt an ihn herangewagt, aus Angst, sich lächerlich zu machen und das Gesicht zu verlieren. Qian Ding begann nun vorsichtig mit seinen Stäbchen die Blätter des Kohls auseinanderzuziehen. Der vormals festgeschlossen wirkende Kohlkopf öffnete sich – und siehe da, in seinem Inneren verbargen sich erlesene, herrlich duftende Delikatessen. Sogleich breitete sich im ganzen Zimmer ein köstlicher Geruch aus. Die Honoratioren waren zum größten Teil Bauerntölpel, die derbes und einfaches Essen gewohnt waren und dergleichen innovative kulinarische Finessen wie aus dem Bilderbuch noch nie zu Gesicht bekommen hatten. Ermuntert vom Präfekten griffen sie nun zu ihren Stäbchen und nahmen damit ein wenig von den Kohlblättern auf und kosteten. Dabei bemühten sie sich, möglichst unbeeindruckt zu wirken und sich einen fachmännischen Anschein zu geben. Der alte Herr Xiong, Finanzverwalter und persönlicher Sekretär des Präfekten, hatte sich den Umtrunk natürlich nicht entgehen lassen. Er nahm die Gelegenheit wahr, den Anwesenden die Gattin des Präfekten – die Landesmutter des Volks von Gaomi – vorzustellen, eine Enkelin des großen Zeng Guofan, auch bekannt als Zeng Wenzheng, die sich höchstpersönlich um das Essen gekümmert hatte. Ihr verdanke man dieses köstliche Gericht, das ihrer Familientradition entstammte: Eisvogelkohl. Herr Zeng Wenzheng habe das Gericht während seiner Zeit als Vizechef des Ritenministeriums in Beijing zusammen mit seinem Küchenchef immer wieder verfeinert und zu einer Spezialität des Hauses gemacht. In diesem so unscheinbar aussehenden Kohlkopf manifestiere sich die Weisheit einer ganzen Generation berühmter Minister. Zeng Wenzheng, so erfuhr man, war ein Meister des Pinsels wie des Schwerts und auch auf dem Gebiet der Kochkunst überragte er andere um Längen. Auf die Rede des Finanzsekretärs folgte erneut ein sehr herzlicher Applaus. Einige der Honoratioren im fortgeschrittenen Alter mußten weinen. Die Tränen liefen ihnen über die faltigen, verwitterten Wangen, während sich das gesamte Rotzwasser ihrer Nasen in ihren mageren Bärtchen fing.
Nachdem drei weitere Becher geleert waren, hoben die Honoratioren ihrerseits zu Trinksprüchen für Qian Ding an, auf jedes Prost folgte eine Lobpreisung. Die Reden waren mal banal, mal originell, doch niemand vergaß der besonderen Erwähnung des Barts Seiner Exzellenz. Einer sagte, Seine Exzellenz sei wahrhaftig ein neuer Guan Yunzhang oder die Wiedergeburt eines Wu Zixu; ein anderer sprach davon, daß der Präfekt ein wahrer Zhuge Liang sei, er sei wie der Himmelskönig, der eine ganze Pagode mit einer Hand in die Luft hob. Soviel Lobhudelei war selbst dem ambitionierten Qian Ding zuviel. Nach jedem Trinkspruch mußte er anstoßen, und mit jedem Anstoßen einen weiteren Becher leeren, und mit jedem weiteren Becher benahm er sich weniger staatsmännisch. Er redete und diskutierte, wild gestikulierend, verzückte durch seinen redegewandten Charme, tanzte, vergaß jede Etikette und zeigte sich mit all seinen Talenten als wahrer Mann des Volkes.
Am Ende lagen sowohl der Präfekt als auch die Honoratioren betrunken unter dem Tisch. Dieses Bankett war bald in aller Munde, und noch Jahre später bildete es ein beliebtes Gesprächsthema in der ganzen Präfektur. Der jadegrüne Chinakohl wurde zu einem Wunderwerk stilisiert, von zahlreichen Mythen umrankt. Zum Beispiel erzählte man sich, daß es zum Öffnen dieses Chinakohls eines geheimen Mechanismus bedürfe, den nur Qian Ding beherrsche, unter dessen Berührung der Kohl sofort aufgegangen sei wie eine weiße Lotusblüte, die in sich ein Dutzend farbenprächtiger Blüten, jeweils gekrönt von einer schimmernden Perle, geborgen habe.
Sehr schnell breitete sich die Kunde aus, daß der neue Präfekt der Ehemann einer Enkelin des berühmten Zeng Guofan sei. Er sei von besonders würdevoller Erscheinung, und der Bart, der sein Kinn ziere, könne sich in jeder Hinsicht mit dem des Guan Yunzhang messen. Der Präfekt sei nicht nur von noblem Auftreten, sondern werde auch in den beiden wichtigsten
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