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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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›Kleiner Li, du verstehst nicht, daß das größte Tabu auf Erden die absolute Perfektion ist. Schau dir unseren Mond am Himmel an. Kaum ist er rund und voll, schon nimmt er wieder ab; oder die Früchte auf den Bäumen: Kaum sind reif, schon fallen sie herunter. Erst die Dinge, die ein ganz kleines Manko aufweisen, sind von Bestand. Neuntausendneunhundertneunundneunzig, das ist die beste Zahl unter dem Himmel und auch die größte. Niemand, gleich ob Minister oder einfacher Mann des Volkes, ist in der Lage ist, sich eine perfekte Zahl wie die Zehntausend vorzustellen. Das ist etwas, das du verstehen lernen solltest, Kleiner Li.‹ Etwas so Rätselhaftes und Unergründliches lag in den Worten Seiner Exzellenz, daß ich sie mir bis heute nicht habe erklären können. Später sagte er noch zu mir: ›Kleiner Li, auf der ganzen Welt gibt es nur drei Menschen, denen die Zahl meiner Barthaare bekannt ist. Einer davon bist du, einer bin ich und der dritte ist meine Frau. Du solltest dieses Wissen besser für dich behalten, denn wenn diese Zahl einmal nach außen durchsickert, dann könnte das schwerwiegende Konsequenzen haben und sogar eine große Katastrophe heraufbeschwören.‹«
    Li Wu nahm seinen Becher und nippte ein wenig am Wein; er stocherte wählerisch mit seinen Stäbchen in den verschiedenen Gerichten herum und stieß ein paar Schmatzgeräusche aus, mit denen er offensichtlich seine Mißbilligung über die Derbheit des Essens kundtun wollte. Schließlich nahm er eine einzelne Sojabohnensprosse auf und knabberte gelangweilt darauf herum wie eine satte Ratte. Der Sohn des Herrn Liu und Vater des Neugeborenen kam mit einer Schale duftenden Schweinekopfs vorbei und blieb vor Li Wu stehen. Er wischte sich mit seiner öligen Hand den Schweiß von der Stirn und sagte entschuldigend zu ihm: »Onkel Li, es tut mir sehr leid, daß wir Euren Gaumen beleidigt haben. Wir sind nur einfache Leute vom Land, die kein gutes Essen zustande bringen. Ich bitte Euch, doch etwas hiervon zu kosten.«
    Li Wu spuckte die zwischen seinen Zähnen steckende Sojabohnensprosse aus, legte seine Stäbchen geräuschvoll auf dem Tisch ab und sagte mit unverhohlenem Ärger, den er mit einem übertrieben freundlichen Tonfall kaschierte: »Ältester Sohn der Lius, da unterliegst du leider einem gründlichen Mißverständnis. Glaubst du, ich sei wegen des Essens hergekommen? Wenn dein Onkel einmal Abwechslung von seiner kargen Alltagskost sucht, dann setzt er sich in irgendein beliebiges Gasthaus und muß nicht einmal den Mund aufmachen, damit ihm sofort reichlich Seegurken und Abalonen, Kamelhufe und Bärentatzen, Igelköpfe und Schwalbennester aufgetischt werden. Wenn es richtig etwas zu essen, zu sehen und zu schmecken gibt, das erst nenne ich ein Festmahl! Aber das hier, was soll das sein? Zwei Tellerchen mit halbgegarten Sojabohnensprossen, eine Platte mit stinkendem, ranzigen Schweinefleisch, ein Krug mit saurem Reiswein, der nicht warm und nicht kalt ist. Nennt man das ein Festmahl? Das ist doch wohl ein Witz! Wir sind heute hier, weil wir deinen Vater beglückwünschen und ihm die Ehre unserer Anwesenheit verschaffen wollen, und um ein wenig mit der Nachbarschaft zu schwatzen. Ich habe sehr viel zu tun mein Sohn, und es war wahrhaftig kein leichtes, mir die Zeit zu nehmen und hierherzukommen.«
    Dem derart zurechtgewiesenen Ältesten der Lius blieb nichts anderes übrig, als sich zu verbeugen, um sich beim nächsten Räuspern des Herrn Li schleunigst aus dem Staub zu machen.
    Li Wu sagte: »Herr Liu gilt doch als ein gebildeter und belesener Mann, wie konnte der nur so einen Nichtsnutz aufziehen?«
    Die ganze Gesellschaft war peinlich berührt und wagte mit keinem Wort, diese Äußerungen zu kommentieren. Sun Bing aber kochte vor Wut. Er streckte die Hand aus und zog die Platte mit dem gehackten Schweinskopf, die vor Li Wu stand, zu sich herüber. »Da der werte Herr Li an die erlesensten Delikatessen gewöhnt ist, muß ihn dieses fette Schweinefleisch direkt vor seiner Visage gehörig abstoßen. Ein einfacher Mann des Volkes wie ich hingegen, nichts als Körner und Gemüse im Magen, werde mir doch mit Freuden ein wenig die Gedärme ölen, damit mir die Kacke um so besser herausflutscht!«
    Sprach's und stopfte sich einen fettriefenden und in Soße badenden Brocken Schweinefleisch nach dem anderen in den Mund. Während er so aß, brummelte er: »Gutes Zeug, gutes Zeug, wirklich verdammt gutes Zeug!«
    Li Wu starrte ihn voller Ingrimm an,

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