Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
Ranglisten für die Absolventen der höchsten Beamtenprüfung geführt, ein kaiserlicher Gelehrter also. Er sprühe vor Geist und rede wie gedruckt. Er sei ausgesprochen trinkfest, und selbst im Rausch verliere er nie die Contenance, erscheine stets so frisch und blühend wie ein schöner Jüngling, wie ein Berg im Frühlingsregen. Seine Ehefrau entstamme einer sehr bedeutenden Familie und sei nicht nur von unvergleichlicher Schönheit, sondern auch von makelloser Tugendhaftigkeit. Die Ankunft dieses Paares war für die Bewohner von Gaomi wie die Verheißung eines grenzenlosen Glücks.
2.
In der Region Dongbei der Präfektur Gaomi lebte ein Mann mit einem schönen Bart. Sein Familienname war Sun, sein Vorname Bing und er war Direktor einer Schauspieltruppe, die sich der Katzenoper verschrieben hatte.
Dongbei war der Entstehungsort dieses Operntypus, der sich durch hervorragenden Gesang und eine besondere Art des Spiels auszeichnete. Der Katzenoper haftete etwas Mystisches an, wie auch den Bewohnern dieses Landstriches selbst. Sun Bing war sowohl Epigone als auch Reformer der Katzenoper und erfreute sich in seinem Gewerbe eines großen Ansehens. Wenn er die Rolle eines älteren Mannes sang, mußte er sich nie eines künstlichen Bartschmucks bedienen, da sein eigener Bart viel ansehnlicher war als jeder Bart aus dem Fundus. Eines Tages jedoch kam es zu einem folgenschweren Zwischenfall. Ein Geldsack aus dem Kreis, Exzellenz Liu, veranstaltete zur Feier der Geburt seines Enkels ein großes Festmahl, zu dem auch Sun Bing eingeladen wurde. Am gleichen Tisch saß auch ein gewisser Li Wu, Angestellter in der örtlichen Dependance des Yamen. Er nahm am Tisch den Ehrenplatz ein und machte sich das ganze Festgelage über mit seiner offiziellen Rolle wichtig. Während des gesamten Essens sprach er nur vom Präfekten, seinen Vorlieben und Abneigungen, und redete dabei wie er und gestikulierte wie er, und am Ende kam er natürlich auf dessen herrlichen Bart zu sprechen.
Li Wu war trotz des Feiertags in voller Amtstracht erschienen, es fehlte nur noch, daß er seinen Feuer-und-Wasser-Schlagstock dabei gehabt hätte. Er schwadronierte mit solch donnernder Stimme, daß es dem braven Volk an seinem Tisch vor Schreck die Sprache verschlug und sie sogar das Essen und Trinken vergaßen. Alle spitzten die Ohren, um die Wellen seiner Tiraden aufzufangen, deren Schaumkronen der Speichel bildete, den er zum allgemeinen Erstaunen beim Reden gleich literweise verspritzte. Sun Bing nun war ein weitgereister Mann mit viel Erfahrung und zahlreichen Bekanntschaften. Wäre Li Wu nicht am Tisch gewesen, hätte vermutlich ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit der Gesellschaft gehört. Aber so, in Anwesenheit eines eng mit dem Kreispräfekten bekannten Amtmanns, würdigte ihn niemand eines Blickes. Er leerte einen Becher Wein nach dem anderen und rümpfte laut vernehmlich die Nase, um seiner Verachtung für diesen albernen kleinen Amtsdiener Ausdruck zu verleihen. Doch niemand schenkte ihm Beachtung – am wenigsten Li Wu, der so tat, als sei niemand am Tisch ihm ebenbürtig. Sehr anschaulich malte er den Bart des Präfekten in allen Farben aus.
»... Der Bart gewöhnlicher Männer, selbst wenn er noch so prächtig ist, besteht aus nicht mehr als tausendachthundert Haaren, aber ratet einmal, wie viele Haare der Bart des Präfekten hat? Haha, ihr kommt wohl nicht darauf? Das sei euch verziehen. Letzten Monat habe ich Seine Exzellenz bei einem Besuch auf dem Land begleitet. Wir untersuchten die Lebensbedingungen des einfachen Volks, und dabei begannen wir zu plaudern. Seine Exzellenz fragte mich: ›Kleiner Li, ratet einmal, wie viele Haare mein Bart hat?‹ Ich antwortete: ›Das kann ich nicht erraten, Exzellenz.‹ Worauf er sagte: ›Das ist verzeihlich. Ich will dir die Wahrheit sagen. Mein Bart besteht aus insgesamt neuntausenneunhundertneunundneunzig Haaren! Es fehlt nur eins, dann wären es zehntausend! Meine Frau hat für mich nachgezählt.‹ Ich fragte Seine Exzellenz: ›Wie kann man denn so viele Barthaare genau nachzählen?‹ Er sagte: ›Meine Frau ist ausgesprochen feingeistig und gescheiter als die meisten Leute, sie hat einfach, nachdem sie bis hundert gezählt hatte, die Haare jeweils mit einem Seidenband abgebunden, bevor sie weitergezählt hat. So konnte sie sich auf keinen Fall verzählen!‹ Ich sagte: ›Exzellenz, dann laßt Euch doch noch ein Haar wachsen, damit ihr auf eine runde Summe kommt!‹ Doch er entgegnete mir:
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