Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
erstes Amt in der Provinz bekleiden durfte. Seither hatte er zwei Präfekturen geleitet, eine war Dianbai in der Provinz Guangdong, die andere war Fushun in der Provinz Sichuan, wo auch Liu Guangdi zu Hause war. Sowohl Dianbai als auch Fushun waren abgelegene Provinznester mit harschen Naturbedingungen und einer ärmlichen Bevölkerung. Selbst als korrupter Beamter konnte man sich dort kein Vermögen verdienen. Deshalb empfand Qian Ding die nicht mehr als vorschriftsmäßige Versetzung in das verkehrsgünstig gelegene, an landwirtschaftlicher Produktion reiche Gaomi als Beförderung. Er war ein Mann von hohen Ambitionen, gesund und energisch; sein rotes Gesicht umgab eine würdevolle Aura, sein Blick aus tiefschwarzen Augen unter den wie Seidenraupen geschwungenen Augenbrauen war durchdringend. Der Bart an seinem Kinn, der bis zum Rand seines Schreibtischs reichte, hatte die Qualität eines kräftigen Pferdeschweifs. Ein Bart von solcher Pracht machte schon einen halben Beamten aus. Qian Dings Kollegen hatten einmal im Scherz zu ihm gesagt: »Bruder Qian, wenn dich unsere erhabenen Majestäten je zu Gesicht bekämen, würden sie dich mindestens zum Oberaufseher über mehrere Präfekturen ernennen.« Zu schade, daß er bis zum heutigen Tage keine Gelegenheit bekommen hatte, seine stattliche Erscheinung dem Kaiser oder der Kaiserinwitwe zu präsentieren. Wenn er sich vor dem Spiegel seinen Bart kämmte, konnte er nicht umhin, einen Seufzer auszustoßen: »Ein Jammer, daß dieses lächerliche Gesicht sich nicht mit diesem himmlischen Bart messen kann.«
Auf der langen Reise von Sichuan zu seinem neuen Posten in Shandong hatte er unterwegs in einem kleinen Tempel am Ufer des Gelben Flusses in der Provinz Shaanxi haltgemacht, wo er das Orakel mittels Wahrsagestreifen aus Bambus befragte. Er zog das beste Blatt, das großes Glück und großen Erfolg verhieß. Der Orakelvers lautete: »Wenn der Karpfen in den Westlichen Flusses gelangt, steigt er mit einem Donnerschlag in den Rang eines hohen Beamten auf.« Qian Dings melancholischer Gemütszustand hatte sich aufgehellt. Bisher hatte er seine großen Ziele nicht erreicht, aber nun konnte er zuversichtlich und hoffnungsfroh in die Zukunft blicken. Obwohl er nach der Ankunft in der Präfektur von der langen Reise ermüdet und ausgelaugt war und sich eine Erkältung zugezogen hatte, machte er sich, kaum daß er von seinem Pferd abgestiegen war, unverzüglich an die Arbeit. Nach der Übergabe der Amtsgeschäfte durch seinen Vorgänger begab er sich in die Große Halle, um seine Untergebenen kennenzulernen und eine Antrittsrede zu halten. Da er sich in bester Laune befand, sprudelten ihm die Worte nur so aus dem Mund, er redete formvollendet und flüssig – ganz anders als sein Vorgänger, der ein Stümper war und keine drei zusammenhängenden Sätze zustande brachte. Qian Dings Stimme war von Natur aus angenehm voll und tief, doch die leichte Heiserkeit durch die Erkältung hatte ihr noch zusätzlichen Charme verliehen. Er konnte seinen Triumph deutlich an der Begeisterung seiner Zuhörer ablesen. Nach der Rede strich er sich mit feiner Koketterie mit Daumen und Zeigefinger über seinen Bart und erklärte die Audienz für beendet. Jeder Anwesende hatte das Gefühl, daß Seine Exzellenz ihn persönlich wahrgenommen habe, und dieses Gefühl war zugleich ermutigend und alarmierend. Als Qian Ding sich nach seinem tadellosen Auftritt von seinem Platz erhob, war es, als wehte ein frischer und reiner Wind durch die Halle.
Wenig später, beim Bankett für die Honoratioren der Präfektur, gehörte seinem vornehmen Auftreten und seinem wunderschönen Bart erneut die ungeteilte Aufmerksamkeit der Gäste. Seine von der Erkältung in Mitleidenschaft gezogene Nase hatte sich rasch wieder erholt, so daß er sich dem Genuß der Spezialitäten von Gaomi hingeben konnte, süßem Reiswein und fettem Hundefleisch. Reiswein entspannt die Muskeln und klärt das Blut, Hundefleisch macht schön und verleiht Farbe. Folglich gewann Qian Ding noch mehr an Glanz und sein Bart wirkte noch eleganter. Mit seiner vollen, tiefen Stimme brachte er mehrmals Trinksprüche aus und betonte den Honoratioren gegenüber seine Entschlossenheit, während seiner Amtszeit sein Bestes für das einfache Volk zu tun. Dabei wurde er immer wieder vom Applaus und den Hurrarufen der Gäste unterbrochen. Im Anschluß an seine Reden wollte der Applaus gar kein Ende nehmen. Er hob seinen Becher und leerte ihn auf das Wohl der
Weitere Kostenlose Bücher