Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
allzugroßes Aufhebens um dieses Ereignis machen und hatte deshalb nur ein Dutzend Ehrenmänner von großem Ansehen in der Präfektur dazu eingeladen. Sie sollten als Juroren fungieren. Aber die Kunde von dem Bartwettkampf zwischen Qian Ding und Sun Bing hatte sich bereits wie ein Lauffeuer verbreitet. Bereits am frühen Morgen sammelte sich das scharenweise herbeigeströmte Volk vor dem Yamen. Die ersten, die eintrafen, hielten noch respektvollen Abstand zu dem ehrwürdigen Gebäude und beobachteten das Geschehen von Ferne; je mehr Menschen jedoch nachdrängten, desto mehr ging es vor dem Tor drunter und drüber und die Menge schubste und drängte sich näher heran. Die Leute zeigten sich gegen jeden Einschüchterungsversuch immun und die Schergen, die für gewöhnlich vor den Toren des Yamen patrouillierten wagten nicht einzuschreiten, als die Menge sich in Grüppchen zusammenschloß, um die Torwächter beiseite zu schieben. Im Nu überflutete eine ganze Welle von Schaulustigen den Vorhof, und unablässig drängten Leute nach. Ein paar vorwitzige Bengel kletterten sogar an den Bäumen vor der Außenmauer hoch, um sich einen Aussichtspunkt auf der Mauer zu sichern.
In der Mitte des Hofes hatte man bereits ein Dutzend schwere Bänke aus Katalpenholz aufgebaut. Auf den lehnenlosen Bänken saßen mit todernsten Mienen, als trügen sie an der Last einer schweren Bürde, die vom Präfekten einbestellten Ehrenmänner. Auch der Sekretär für Justizangelegenheiten, der Sekretär für Finanzen und die Schriftführer der Sechs Ämter hatten auf den Bänken Platz genommen. Die Schergen des Yamen bildeten einen Ring um sie herum und hielten mit ihren Rücken die andrängende Menge in Schach. In der Mitte hatte man zwei riesige, mit klarem Wasser gefüllte Holzbottiche aufgestellt. Die beiden Protagonisten hatten die Szene noch nicht betreten. In der Menge herrschte gespannte Unruhe. Die Leute waren bereits schweißverklebt. Ein paar Kinder, die sich wie die Pfuhlfische durch die Gaffer zwängten, sorgten für zusätzliche Unruhe. Die Schergen verloren unter dem Druck ihr Gleichgewicht wie von der Flut überschwemmte Maissetzlinge. Doch Drohgebärden waren fehl am Platz. Fast schien es, als herrsche heute ein durchaus freundliches Verhältnis zwischen dem Volk und den lokalen Autoritäten. Eine Bank wurde von der Menge umgestoßen, so daß einer der Ehrenmänner, ein großgewachsener Herr mit einer Wasserpfeife unter dem Arm, zur Seite springen mußte. Er warf der dreisten Menge einen empörten Blick zu. Ein anderer der Ehrenmänner, ein dicker alter Herr mit grauem Bart, ging der Länge nach auf allen vieren zu Boden und hatte alle Mühe, sich zwischen den vielen Beinen wieder aufzurichten. Während er sich den Staub von den Seidenärmeln wischte, stieß er mit rauher Stimme Verwünschungen gegen die Umstehenden aus. Sein fleischiges Gesicht blähte sich dermaßen auf, daß es aussah wie ein frischgebackener Krapfen. Einer der Schergen wurde gegen eine Bank gedrückt und eingequetscht. Er jaulte auf wie ein abgestochener Hund, bis seine Kollegen ihn endlich aus der Menge herauszuziehen vermochten. Der hagere, dunkelhäutige Chef der schnellen Eingreiftruppe, ein tüchtiger, junger Mann namens Liu Pu, rief in dem ihm eigenen warmen und freundlichen Art der Leute aus Sichuan die Menge zur Vernunft: »Freunde, hört auf zu drängeln, sonst passiert noch ein Unglück!«
Am späten Vormittag betraten endlich die Hauptakteure die Bühne. Seine Exzellenz Qian schritt gravitätisch die Treppenstufen von der Großen Halle hinab durch das Zeremonientor in den Seitenhof. Der herrliche Sonnenschein brachte sein Antlitz zum Leuchten. Er winkte dem Volk zu und strahlte über das ganze Gesicht, wobei er eine Reihe blendendweißer Zähne entblößte. Die Menge war von seinem Anblick ganz ergriffen, doch es war eine stille Ergriffenheit; niemand tobte, applaudierte oder weinte. Die Leute waren von der imposanten Erscheinung des Präfekten wie vom Donner gerührt. Es war natürlich bekannt, daß Seine Exzellenz von mustergültigem Habitus war, doch kaum jemand hatte ihn je mit eigenen Augen gesehen. An jenem Tag erschien er nicht in seiner Amtsrobe, sondern war in ziviler Kleidung. Sein Kopf war ohne Hut. Der glattrasierte Vorderschädel schimmerte bläulich wie der Panzer einer Krabbe, der Hinterkopf glänzte wie ein Spiegel, und sein langer und dicker Zopf reichte ihm bis zum Speckgürtel. Am Zopfende waren eine grüne Jadebrosche und ein
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