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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Ehrenmänner der Präfektur, liebe Mitbürger, wir sind heute hier versammelt in der Sache des Übeltäters Sun Bing, der mit unziemlichen Worten Seine Exzellenz den Präfekten beleidigt hat. Die Schwere seines Verbrechens erfordert eigentlich eine strenge Bestrafung im Sinne des Gesetzes, doch Seine Exzellenz der Präfekt hat äußerste Milde walten lassen, weil der Täter bis jetzt als ein rechtschaffener Mann galt. Um Sun Bing vollends von der unglaublichen Anmaßung seiner Äußerung zu überzeugen, hat Seine Exzellenz sich bereit erklärt, sich öffentlich mit ihm zu messen. Es soll festgestellt werden, wer von beiden den schöneren Bart besitzt. Falls Sun Bing als Sieger aus dem Wettstreit hervorgeht, wird Seine Exzellenz die Anklage gegen ihn fallenlassen. Falls Seine Exzellenz obsiegt, muß sich Sun Bing seinen Bart ausreißen und darf ihn sein Leben lang nicht mehr wachsen lassen. Sun Bing, ist das richtig?«
    »So ist es!« erwiderte Sun Bing hocherhobenen Hauptes. »Ich danke Seiner Exzellenz für seine Großmut.«
    Der Sekretär schaute auf Qian Ding, welcher leicht mit den Kopf nickte.
    »Der Bartkampf beginnt!« verkündete der Sekretär mit lauter Stimme.
    Schon hatte Sun Bing seine Weste abgeworfen, seinen von zahllosen Narben übersäten Oberkörper entblößt und sich behende den langen Zopf um den Kopf geschlungen. Dann zog er seinen Gürtel fest, trat mit den Füßen nach rechts und links, breitete die Arme aus und atmete tief ein. Seine ganze Energie war nun auf seine untere Kinnpartie konzentriert. Und wahrhaftig begann sein Bart, wie durch Hexerei, raschelnd zu erbeben, um gleich darauf hart und starr zu werden wie Stahlwolle. Sun Bing reckte das Kinn, ging in die Knie und tauchte den Bart nach und nach vollständig in das Wasser ein.
    Qian Ding hatte keine Eile, seine Pose einzunehmen. Während Sun Bing sich auf seinen Bart konzentrierte, hatte er gelassen lächelnd danebengestanden und nur den Papierfächer in seiner Hand bewegt. Die Menge war zutiefst beeindruckt von seiner distinguierten Haltung. Die Darbietung von Sun Bing fand man hingegen überzogen und peinlich. Sun Bing erinnerte an primitive Kampfkünstler oder Straßenverkäufer, die einem fragwürdige Heilmittel andrehen wollen. Als Sun Bing seinen Bart in den Wasserbottich tauchte, faltete Qian Ding seinen Papierfächer zusammen und ließ ihn in seinem weiten Ärmel verschwinden. Dann machte er eine leichte Bewegung aus der Hüfte, nahm seinen Bart in beide Hände und schwang ihn so elegant und formvollendet nach vorn, daß Sun Meiniang beinahe das Herz stehenblieb. Nun reckte auch Seine Exzellenz das Kinn, machte einen geraden Rücken, ging in die Hocke und tauchte seinen Bart ins Wasser.
    Die Leute stellten sich auf die Zehenspitzen und reckten die Hälse, um einen Blick auf die Bärte in den Wasserbottichen zu erhaschen, doch die meisten bekamen nicht mehr zu sehen als die Gesichter der beiden Kontrahenten: die beherrschte, abgeklärte Miene des Präfekten und die angestrengte, verbissene Miene Sun Bings. Selbst diejenigen, die in unmittelbarer Nähe standen, konnten den Zustand der beiden Bärte im Wasser nicht deutlich erkennen. Die Sonne blendete zu sehr und das Wasser war dunkel.
    Der als Schiedsrichter fungierende Sekretär und der Lizentiat Dan liefen zwischen den beiden Bottichen hin und her, freudestrahlend und unermüdlich vergleichend. Um die Menge zufriedenzustellen, rief der Sekretär: »Wenn jemand von euch es sich ansehen will, möge er näher treten!«
    Mit einem Satz war Sun Meiniang über die Bank gesprungen und vor den Präfekten hingeglitten. Sie sah das kräftige Ende seines Zopfes, seine starken Halswirbel, die weiße Haut seines geschwungenen Ohrbogens. Sie spürte, wie das Blut ihr in die Lippen schoß und das unbändige Verlangen, sich wie ein kleines Insekt in sein Herz zu beißen. Nur zu gerne hätte sie seinen ganzen Körper mit sanften Küssen bedeckt, doch sie wagte es nicht. Sie fühlte in ihrem Herzen etwas aufwallen, was schlimmer war als Schmerz, und ein paar große Tränen tropften auf den makellos schönen Nacken Qian Dings herab. Ein undifferenzierbarer Geruch duftete ihr aus dem Bottich entgegen, in welchem Qian Dings Bart stand, kerzengerade, als ob er dort fest verwurzelt wäre wie eine Wasserpflanze. Sie konnte sich kaum losreißen von dem Anblick, doch der Sekretär und Lizentiat Dan drängten sie, zu Sun Bing hinüberzugehen. Sie sah sofort, daß auch der Bart ihres Vaters schnurgerade

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