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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
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Kopfsteinpflaster und unter niedrigen Eisenbrücken hindurch bis zur goldenen Pagode im Battersea Park. Dann stand sie am Flussufer, wo sich die gläsernen Fassaden der Bürotürme im grauen Wasser spiegelten. Sie überquerte die nächste Brücke, bog nach rechts ab und kam in einen Park mit alten Bäumen, der sich hoch oben am Flussufer dahinzog. Erst als sie an einem Geländer vor einem hohen gelben Gebäude stand, fiel ihr auf, dass sie Westminster Abbey erreicht hatte.
    Eine Menschenschlange schob sich durch die schwarzen Tore. Zwischen den Säulen stand ein Schild mit einer Ankündigung: Abendandacht um 15 Uhr . Es regnete jetzt stärker. Wann hatte Dawn zuletzt eine Kirche besucht? Heute war kaum ein geeigneter Tag, um an einem heiligen Ort zu verweilen; sie hatte nicht vor, länger zu bleiben. Aber unter dem hohen Deckengewölbe wurde sie mit einem Mal ruhiger. Die anderen Besucher waren bis ans Ende des Kirchenschiffs gelaufen und im Chorgestühl verschwunden. Dawn fand sich ganz allein wieder. Der Gottesdienst hatte begonnen. Hinter dem Chorgestühl hob ein Klagegesang an. Dawn
blieb verunsichert stehen. Mitten im Kirchenschiff standen einige Stühle herum, die man offenbar für Nachzügler aufgestellt hatte. Nach kurzem Zögern setzte sie sich. Ein Paar mittleren Alters kam herein, tuschelte in einer fremden Sprache und ließ sich einige Plätze weiter nieder. Wasser tropfte von ihren Regenumhängen auf die Steinplatten. Der traurige Gesang ging weiter. Das Auf und Ab der Männerstimmen wirkte tröstlich auf Dawn, es beruhigte das Gedankenchaos in ihrem Kopf.
    Clive war tot.
    Clive war tot, und sie hatte ihn umgebracht.
    Nein! Nein, das stimmte nicht! Sie hatte die Assistenzärztin warnen wollen. War es ihre Schuld, dass die junge Frau ihm das Antibiotikum so überstürzt verabreicht hatte? Der Chor im hinteren Teil der Kirche setzte zu einem Kirchenlied an. Die hohen, kindlichen Stimmen erhoben sich bis unter das gotische Deckengewölbe.
    Sie hatte ihn umgebracht. Clive hatte, ohne die Arme bewegen zu können, auf der Trage gelegen und den Blickkontakt zu ihr gesucht. Er hatte um sein Leben gefleht. Sie war die einzige Oberschwester im Raum gewesen, die erfahrenste Kraft. Wäre Clive nicht Clive gewesen, wäre es wohl nie so weit gekommen.
    Nach Mrs. Walkers Tod hatte Dawn sich gesagt: Es ist okay. Es ist richtig so. Denn sie hatte aus besten, altruistischen Absichten heraus gehandelt und für sich selbst nichts gewollt. Aber in diesem Fall konnte sie das nicht behaupten. Sie musste der Wahrheit ins Auge sehen: Was am Vorabend passiert war, hatte einzig und allein ihr selbst genützt.
    Die dünnen Sopranstimmchen klangen so fremd und unharmonisch, dass Dawn sich die Ohren zuhielt. Sie hatte nicht aus reinem Egoismus gehandelt. Nein, auf keinen Fall! Was war mit all den Menschen, denen Clive geschadet hatte?
Die schutzlosen Patienten, für die er verantwortlich gewesen war und die er gequält hatte? Bei Mrs. Walker hatte es sich bestimmt nicht um die erste Patientin gehandelt, die unter ihm leiden musste. Und sie wäre nicht die letzte geblieben. Clive hatte versucht, Dawn zu einem Mord anzustiften, hatte sich in ihren Garten geschlichen, um einen harmlosen, alten Hund zu erstechen. Warum sollte Dawn wegen so einem Menschen ihre Karriere und alles, was ihr wichtig war, aufs Spiel setzen? Für wen wäre das von Vorteil gewesen?
    Ringsum ragten die grauen Steinmauern in die Höhe. Die Statuen und Gedenktafeln zwischen den Säulen, die in den Boden eingelassenen Grabplatten, die Erinnerungen an Premierminister, Wissenschaftler, geliebte Töchter – und vor allem Soldaten. Wohin man auch sah: der Vizeadmiral einer britischen Flotte, gestorben 1716; ein Generalmajor, der für die Ostindische Kompanie gekämpft hatte; ein gewisser James Bringfeild, der 1706 im Kampf gefallen war. All diese Menschen hatten Kriege angezettelt, hatten gekämpft und andere Menschen getötet. Und wahrscheinlich hatte keiner von ihnen geglaubt, das Falsche zu tun. Ganz im Gegenteil, die Gedenktafeln und Statuen bewiesen, dass man sie für Helden hielt. Sie hatten für einen guten Zweck getötet. Befand sie sich nicht in einer ganz ähnlichen Lage? Nun, da Clive nicht mehr lebte, war Dawn in Sicherheit, und James Franks sowie alle Patienten, die Clive in der Zukunft begegnet wären. Dawn konnte im St. Iberius weiterarbeiten, als wäre nichts geschehen. Sie würde wieder so viel Freude an ihrer Arbeit haben wie bisher. Genau so sollte

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