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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
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Freitagabend gelesen, kurz vor der Nachtschicht. Er musste die E-Mail irgendwann in der Zwischenzeit geschickt haben. Vermutlich am Samstag, und am Samstagabend war er dann gestorben. Sicher handelte es sich um seine Antwort auf den Rausschmiss am Freitagabend. Überraschend war nur, dass er überhaupt dazu in der Lage gewesen war. Im Umkleideraum war er völlig aufgelöst gewesen, verschwitzt, nervös und fahrig, so als könnte
er jeden Moment aus dem Fenster springen. Ihr zu schreiben musste ihm überaus wichtig gewesen sein. Dawn ahnte schon, was in der Nachricht stand. Sicher handelte es sich um eine gemeine, bitterböse Abrechnung; wenn sie sein Leben zerstörte, würde er dafür sorgen, dass auch das ihre den Bach runterging. Vielleicht hatte er ihr in seinem Sadismus sogar eine detaillierte Schilderung des Mordes an Milly geschickt. Dawn knirschte mit den Zähnen. Nein, sie würde das nicht lesen. Die Genugtuung gönnte sie ihm nicht. Ihr Finger schwebte über der Löschtaste.
    Aber sie drückte sie nicht.
    Sie war es ihm schuldig. Er hatte auf der Trage gelegen, Arme und Beine unbeweglich, und sie angefleht, sie, den einzigen Menschen, der sein Leben noch retten konnte. Und sie hatte tatenlos zugesehen. Bei der Erinnerung wurde ihr schlecht. Sie schuldete ihm so etwas wie Respekt. Was immer er gewollt hatte, es war ihm wichtig gewesen, es für sie aufzuschreiben. Was immer es auch war, sie musste es lesen. Sie konnte nicht umhin, seine Gefühle zumindest zur Kenntnis zu nehmen.
    Sie öffnete die Mail. Auf dem verstaubten Monitor las sie:
    Liebe Oberschwester,
    ich hoffe, es geht Ihnen gut.
    Wie bereits in meiner letzten Nachricht angekündigt, kommen nun die näheren Informationen. Besagter Patient heißt Gordon Farnley. Sie erinnern sich hoffentlich daran, dass wir zu einer Übereinkunft gelangt sind.
    Ich weiß mit Sicherheit, dass Gordon Farnley heute Morgen ins St. Iberius aufgenommen wurde. Er liegt auf der orthopädischen Station im zweiten Stock.
    Dies ist meine letzte Bitte an Sie, das garantiere ich
    Ihnen. Sobald Mr. Farnley nicht mehr unter uns weilt,
haben Sie Ihre Pflicht erfüllt und werden nie wieder von mir hören.
    Viele Grüße,
    Gratulant
    Der Staub schien wie in einer einzigen Wolke vom Bildschirm aufzusteigen. Die Luft verdunkelte sich, trübte ihren Blick. Dawn rieb sich die Augen. Gordon Farnley? Gordon Farnley? Er meinte doch sicherlich James Franks. Dawn ließ die Hände sinken und las die Nachricht noch einmal. Der Patient war »heute Morgen« ins St. Iberius gekommen. Clive musste die Mail am Samstag geschrieben haben, denn kein anderer Tag kam infrage. Aber wie konnte es sein, dass der Patient an einem Samstag aufgenommen worden war? Geplante Krankenhausaufenthalte begannen nie an einem Samstag. Das Wochenende war für Notfälle reserviert.
    Sie wusste die Antwort, noch bevor sie es sich eingestehen wollte. Sie versuchte, das aktuelle Datum zu ermitteln, aber ihre Finger gerieten durcheinander und drückten mehrere Tasten auf einmal. Schließlich gelang es ihr, bis zum Anfang der Nachricht hochzuscrollen. Sie brauchte beide Hände dafür.
    Gesendet , stand da, um 10.25 Uhr .
    Vor einer Stunde.

Kapitel 18
    Nicht Clive! Nicht Clive! Der Kaffee, den sie verschluckt hatte, ließ sie pfeifend nach Atem ringen. Clive war nicht der Erpresser. Sie spürte ein Pochen in den Schläfen und ein Kribbeln am ganzen Körper, aber abgesehen davon blieb sie äußerlich ganz ruhig.
    Nach einer Weile übertrug sich diese Ruhe auf ihr Gefühl. Nicht nur das Pfeifen ihrer Lunge hörte auf, auch alle wirren Gedanken und Bilder schienen zu verblassen, bis Dawn schließlich mit völlig leerem Kopf dasaß. Ivy Walker, die einsam in ihrem billigen Sarg lag; Milly, die mit einem Messer im Bauch mitten in der Nacht um ihr Leben kämpfte; Clive, der auf die Trage gedrückt wurde. Sie alle hatten Dawn verlassen, waren gegangen. Das Einfachste war, im Morgenmantel sitzen zu bleiben und sich vom Funkeln der Kristallgläser auf der Anrichte blenden zu lassen. Eines war nun klar: Es würde nie vorüber sein.
    Sie hätte noch lange so verharrt, wäre ihr nicht plötzlich ein Gedanke gekommen: Jetzt weißt du, wer Mr. F ist. Er heißt Gordon Farnley und ist Patient im St. Iberius. Ob es dir gefällt oder nicht: Du bist immer noch Oberschwester dort, und damit bist du für ihn verantwortlich.
    Sie bemühte sich, den Gedanken zu verdrängen. Was sollte sie tun? Falls sie sich einmischte, würde es katastrophal enden,

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