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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
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auf den Arm. »Es tut mir so schrecklich leid. Aber es ist wirklich wichtig. Sie müssen mir zuhören. Ich fürchte, dass Sie in großen Schwierigkeiten stecken.«
    Mr. Farnley nickte, aber er war schon wieder dabei einzudösen. Es war hoffnungslos. Wenn doch nur jemand bei ihm wäre, eine Angehörige oder ein Freund, mit dem sie reden und dem sie auftragen könnte, den alten Mann im Auge zu behalten. Aber der Besucherstuhl stand verwaist unter dem Fenster; er war seit der Ankunft des Patienten nicht bewegt worden. Der Nachtschrank des Alten war so leer wie der von Mrs. Walker. Nichts Persönliches befand sich darauf, abgesehen von der Brille und einem Gebiss am Boden eines Wasserglases. Beim Anblick der Zähne zog sich Dawns Herz zusammen. Die Patienten waren so schutzlos. Man beraubte sie ihrer Würde, zog sie nackt aus und entfernte alle persönlichen Gegenstände, und dann tauchten vollkommen fremde Menschen an ihrem Bett auf, untersuchten sie und erteilten Anweisungen. In der Hälfte der Fälle wussten die Patienten nicht einmal, um wen es sich bei diesen Leuten handelte.
    Mr. Farnley hatte wieder zu schnarchen begonnen. Sein Atem ging jetzt langsamer, rasselnder. Dann hörte er vollkommen zu atmen auf. Sein Brustkorb hob sich zwar, aber
keine Luft strömte ein. Eine Sekunde später schnaufte er laut und riss die Augen auf. Als er Dawn neben dem Bett stehen sah, warf er den Kopf hin und her.
    »Edith?«, fragte er.
    Es klang kläglich. Seine hellblauen Augen liefen über. Er war schwach, alt und allein. Was konnte ein Mann wie er verbrochen haben, um sich den Zorn und damit das Todesurteil eines anderen zuzuziehen? An seinem zerschlissenen Pyjama fehlte ein Knopf. Der Stoff hing ihm lose um die Schultern. Offenbar hatte er in der letzten Zeit abgenommen. Älteren Männern erging es häufig so, wenn die Ehefrau gestorben war. Sie kamen allein nicht mehr zurecht.
    Dawn setzte sich auf die Bettkante.
    »Ist schon okay.« Sie berührte die knochige Hand mit der pergamentartigen Haut, die auf der Decke lag. »Es ist nicht so wichtig. Schlafen Sie weiter. Ruhen Sie sich aus.«
    Beruhigt schloss Mr. Farnley die Augen. Nun war im Raum nur noch sein Atem zu hören. Aus dem Korridor war das entfernte Klappern von Geschirr zu vernehmen, außerdem Stimmen und Türenschlagen. Daphne hatte ihre Station so aufgeteilt, dass die frisch operierten Patienten, die am meisten Pflege brauchten, in den vorderen Zimmern lagen, dort, wo die Personaldichte am höchsten war. Hier hinten befanden sich größtenteils die Kranken, die auf ihre OP warteten und gelangweilt vor sich hin dösten. Nur hin und wieder schauten die Schwestern nach dem Rechten. Mr. Farnley holte röchelnd Luft. Er war sehr groß. Seine langen Füße ragten über die Matratze hinaus. Seine Wangenknochen waren kantig und ausgeprägt. Früher einmal musste er eine beeindruckende Erscheinung gewesen sein; aber die Beruhigungsmittel und der zu große Pyjama erinnerten Dawn wieder einmal daran, wie hilflos manche Patienten waren. Käme irgendjemand herein, um Mr. Farnley etwas anzutun – ihm
beispielsweise ein Medikament zu spritzen oder ihm ein Kissen aufs Gesicht zu drücken –, wäre er absolut unfähig, sich zu verteidigen und den Angreifer abzuwehren.
    Und falls es tatsächlich dazu kommen sollte, in einem so stillen, abgelegenen Zimmer wie diesem … wer würde je davon erfahren?
    Die E-Mail von heute Morgen: Dies ist meine letzte Bitte an Sie.
    »Hallooo!«
    Dawn wirbelte herum. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass jemand die Vorhänge aufgezogen hatte. Zwei große Männer in grünen Kitteln zwängten sich herein.
    »Gordon Farnley?«, rief der eine in kumpelhaftem Tonfall. »Bereit für die Operation?«
    »Ja«, sagte Dawn und stand hastig auf, »das ist er.«
    Sie hatte sich zu schnell bewegt. Von den Rändern ihres Gesichtsfeldes breitete sich ein schwarzes Spinnennetz aus und schränkte ihre Sicht ein. Sie tastete nach dem Nachtschränkchen und klammerte sich daran fest, bis sie wieder klar sehen konnte. Die Pfleger waren damit beschäftigt, Mr. Farnley vom Bett auf die OP-Trage zu heben.
    »Alles klar, Chef. So ist’s richtig. Ich habe ihn.«
    »Bitte sehr, der Herr, eine warme Decke für die Reise.«
    In ihrer fröhlichen, routinierten Art scherzten die Männer mit dem Alten herum, bis er bequem auf der Trage lag und sie ihn aus dem Zimmer schoben. Dawn stand wie angewurzelt da; immer noch drückte sie ihre Handfläche gegen die Nachttischkante. Sie

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