Die sanfte Hand des Todes
hätte er von einem schönen Urlaub mehr als von einer neuen Hüfte.«
»Nimmt er Drogen?«, fragte Dawn.
»Drogen?«, fragte Daphne überrascht. »Mr. Farnley?«
Dawn zuckte die Achseln. Sie wusste selbst nicht, warum sie gefragt hatte. Ob Mr. Farnley Drogen nahm oder nicht, war eigentlich nicht von Belang.
»Das halte ich für unwahrscheinlich«, sagte Daphne und wühlte weiter in den Papieren. »Sicher, dass wir denselben Patienten meinen?«
»Ich glaube schon.«
Daphne hatte die Unterlagen gefunden und zog sie aus dem Stapel.
»Bitte sehr, Zimmer sechs. Er liegt dort allein, Sie können sich also ungestört unterhalten.«
»Vielen Dank.«
Als Daphne gegangen war, überflog Dawn die Krankenakte. Sie war dünn und umfasste nicht mehr als zwei Seiten. Auf der ersten standen die persönlichen Angaben – Adresse, Hausarzt, Angehörige –, auf der zweiten ein handschriftlicher Eintrag des einweisenden Arztes. Patient ist männlich, 84 Jahre alt. Maßnahme: Ersatzhüfte. Patient wirkt rüstig. Werte: stabil. Medikamente: keine. Allergien: keine.
Vierundachtzig! Wer wollte einen so alten Mann umbringen? Falls der Eintrag stimmte, war Mr. Farnleys Gesundheitszustand für sein Alter ausgezeichnet. Offenbar war er noch nie stationär behandelt worden, wenigstens nicht im St. Iberius. Andernfalls hätte es eine ältere Akte gegeben. Er wohnte in Tooting. Dawn kannte die Straße; sie sah sie vom Bus aus, wenn sie zur Arbeit fuhr. Mr. Farnleys nächste Angehörige war eine Mrs. Helen Cummings. Mehr stand nicht auf dem Blatt. Kein Hinweis darauf, warum jemand den Mann ermorden wollte.
Raum sechs, ein Zweibettzimmer, befand sich am hintersten Ende der Station. Die Tür stand einen Spalt breit offen. Das Bett an der Tür war leer. Das gefaltete Handtuch auf dem Kissen und der leere Notizblock auf dem Nachttisch verrieten, dass ein Patient erwartet wurde. Die Vorhänge rund um das zweite Bett, das am Fenster stand, waren geschlossen. Dawn näherte sich ihm.
»Mr. Farnley?«
Dawn meinte, ein leises Schnarchen zu hören. Sie zupfte am Vorhangstoff, so dass die Ringe klapperten; sie wollte den Patienten vorwarnen. Dann zog sie den Vorhang beiseite und entdeckte einen alten, schlafenden Mann. Er hatte ein markantes Kinn, buschige, weiße Augenbrauen und eine Halbglatze. Nur über seinen Ohren bauschten sich noch zwei Haarbüschel.
»Mr. Farnley?«
Der Mann schnarchte laut und zuckte mit dem Kopf. Dann schlug er die Augen auf und schaute sich erschreckt um. »Was? Wie? Wer ist da?«
»Ich bin’s«, sagte Dawn, »Schwester Torridge.«
Mr. Farnley sah sie an. Offenbar war sein Augenlicht schwach, denn er schien ihr Gesicht nicht erkennen zu können. Auf dem Nachttisch lag ein Brillenetui und daneben eine zusammengeklappte Brille.
»Edith?«, fragte er und sah Dawn hoffnungsvoll an.
»Nein«, sagte Dawn, »tut mir leid.«
Mr. Farnley starrte noch eine Weile in ihre Richtung, bevor er sich auf die Kissen zurücksinken ließ.
»Nein«, sagte er. »Nein, natürlich nicht. Verzeihen Sie. Meine Frau ist gestorben, schon vor einem Jahr …«
Seine Zunge war schwer, er verschluckte das Satzende. Dawn verließ der Mut. Sie erkannte die Symptome; man hatte Mr. Farnley ein Beruhigungsmittel verabreicht. Das würde die Unterhaltung zusätzlich erschweren.
»Mr. Farnley«, begann sie, »ich muss mit Ihnen über etwas sehr Wichtiges reden. Sie müssen jetzt aufwachen und mir gut zuhören.«
»Also gut …«
»Kennen Sie hier irgendjemanden, der möglicherweise … der …« Dawn wusste nicht, wie sie es ausdrücken sollte. »Der etwas gegen Sie hat? Der Ihnen in irgendeiner Form schaden will?«
»Nein.« Das war mehr gehaucht als gesagt.
»Sind Sie sicher? Vielleicht ist es jemand außerhalb der Klinik? Jemand, den Sie bei einem früheren Krankenhausaufenthalt kennengelernt haben?«
»Dies ist mein erster Aufenthalt in einem Kra… einem Kra…«
»Mr. Farnley, bitte. Sie dürfen jetzt nicht einschlafen. Mr. Farnley!«
Sie hatte lauter gesprochen als beabsichtigt. Mr. Farnley zuckte zusammen und riss die Augen auf. Er schnappte nach Luft, verzerrte vor Schmerz das Gesicht und legte sich eine Hand an die Hüfte. Auch Dawn zuckte zusammen, ahnte sie doch, was er fühlen musste. Einen stechenden, schabenden Schmerz, so als führe jemand mit einem Messer über das Gelenk. An schlimmen Tagen hatte jede unvermittelte Bewegung Milly aufjaulen und zu Boden sinken lassen.
»Es tut mir leid.« Sie legte ihm eine Hand
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