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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
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wirkte alles friedlich. Die Morgenvisite war vorbei. Dawn konnte die lange Reihe der Betten sehen, in denen die Patienten lagen und dösten, lasen oder über Kopfhörer Musik hörten. Elspeth stand an Bett vierzehn und zeigte der neuen Schwesternschülerin, wie man einen Ernährungsschlauch verlegte. Mandy war nach Kräften bemüht, den Strom der neuen Tagesklinikpatienten zu
bewältigen. Clive war gegangen, denn seine Schicht endete um halb eins. Dawn hatte beobachtet, wie er, seinen Rucksack auf dem Rücken, durch die Flügeltüren davongerauscht war. Sein Verschwinden hatte sie erleichtert. Außer den Patienten und den diensthabenden Schwestern war niemand auf der Station. Alle anderen Mitarbeiter, die Ärzte, Ernährungsberater und Physiotherapeuten, befanden sich unten bei der Forschungskonferenz. So ruhig hatte Dawn die Station selten erlebt.
    Wenn man an Zeichen glaubte, musste man diese Stille als ein solches deuten, oder?
    Das Einzelzimmer lag im Halbdunkel. Nichts war zu hören außer dem Rauschen des Regens und dem Piepen des EKG-Geräts. Mrs. Walker lag mit geschlossenen Augen auf die Kissen gestützt und hatte beide Hände zu Fäusten geballt. Sie atmete mit einem zischenden Geräusch aus. Als sie hörte, dass die Tür sich öffnete, bewegte sie den Kopf.
    »Ist schon gut«, sagte Dawn sanft. »Ich bin’s.«
    Sie schloss die Tür. Sie wollte die Jalousie herunterlassen, zerrte an der Schnur, aber nichts passierte.
    Ach ja. Kaputt. Das hatte Clive ihr schon gesagt.
    Dawn überlegte. Wie ärgerlich. Durch die Scheibe in der Tür sah sie Mandy, wie sie in der Tagesklinik mit einem Patienten sprach; sie kehrte Dawn den Rücken zu. Der Eingang zur Tagesklinik war weit genug entfernt, mindestens zehn Meter. Rechts davon lag die Station, mit Elspeth und Trudy, die von hier aus nicht auszumachen waren. Die Haupteingangstür mit den zwei Flügeln zur Linken war geschlossen. Niemand schaute herein, niemand konnte sie sehen. Und wenn schon? Sie war die Oberschwester. Sie hatte jedes Recht, sich hier aufzuhalten.
    Dennoch musste die kaputte Jalousie sie aus dem Konzept gebracht haben, denn als sie sich dem Bett näherte,
stolperte sie über das EKG-Kabel. Der Stecker wurde aus der Buchse gerissen. Sofort ging der Alarm los: Piiiiiieeeep, pieeeep, piiieeeep.
    Der schrille Ton klang Dawn in den Ohren. Sie riss den Arm hoch und schaltete den Alarm aus. Das Geräusch verstummte. Mit zitternden Händen steckte sie das Kabel ins Gerät zurück. Spitze grüne Ausschläge zogen über den Monitor des lautlosen EKGs. Dawn warf einen kurzen Blick zur Tür. Mandy kehrte ihr immer noch den Rücken zu. Keiner kam angerannt. Es war, als hätte niemand den Alarm gehört, aber der Lärm hatte Dawns Zweifel geweckt, die nun panisch in ihrem Kopf herumschwirrten.
    War sie wirklich dazu bereit?
    Sie wusste natürlich, warum es verboten war. »Wo hört es auf?«, hatte Mandy völlig zu Recht gefragt. Niemand durfte sich anmaßen, eine Patientin zu töten. Die meisten Menschen waren weder fähig noch charakterlich geeignet, eine Entscheidung dieser Tragweite zu treffen. Und Gott verhüte, dass ein Mann wie Clive die Macht bekam, über das Leben anderer zu entscheiden!
    Bei Dawn sah die Sache hingegen anders aus.
    Sie musste nicht die Bescheidene spielen. Dawn wusste, dass sie eine außerordentlich gute Krankenschwester war. Während der Ausbildung hatte sie alle Prüfungen mit Bravour bestanden und am Ende die Bestnote erhalten. Eine jüngere Oberschwester hat es an dieser Klinik nie gegeben; sie hatte sogar Francine aus dem Rennen geschlagen, obwohl die über eine viel größere Berufserfahrung verfügte. Im Lauf der Zeit hatte sie gelernt, dass sie sich in Krisensituationen auf ihren Instinkt verlassen konnte. Sie hatte schon einige schwierige Entscheidungen treffen müssen – Entscheidungen, mit denen andere Krankenschwestern heillos überfordert gewesen wären. Zum Beispiel die Sache mit Jack Benson
vor einigen Tagen. Er hätte sterben können, aber Dawns beherztes Eingreifen hatte ihm das Leben gerettet. In all den Jahren hatte ihr Bauchgefühl sie noch nie im Stich gelassen.
    Mrs. Walkers zu Fäusten geballte Hände lagen auf der Bettdecke. Dawn berührte sie sanft. »Ivy?«
    Mrs. Walker schnappte unvermittelt nach Luft, und Dawn zuckte erschreckt zusammen. Die alte Frau zog die Schultern hoch. Zwischen ihren Augen erschien eine tiefe Furche. Sie hielt für einen Moment die Luft an, und dann atmete sie langsam und gequält aus.

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