Die sanfte Hand des Todes
Heiligenschein.
»Übrigens, Dawn. Mrs. Walker ist verstorben.«
»Ich verstehe.«
An der Wand die blumigen Dankeskarten. Liebe Oberschwester, vielen Dank dafür, dass Sie immer wussten, was ich gerade brauchte, selbst als ich zu schwach zum Reden war.
»Die Schwesternschülerin hat sie gefunden«, erklärte Mandy. »Ich habe sie geschickt, um nachzusehen, ob Mrs. Walker irgendwas braucht. Aber da war sie schon kalt. Die Schwesternschülerin ist völlig hysterisch geworden. Sie kam kreischend angerannt. Sie hat sich übergeben müssen. Wirklich«, sagte Mandy und verdrehte die Augen, »es ist ja nicht so, als wäre im Krankenhaus noch nie jemand gestorben.«
Dann fügte sie hinzu: »Ich habe das Notfallteam nicht benachrichtigt, war das in Ordnung? In der Akte stand: Keine Wiederbelebung.«
»Ist schon gut.« Dawn klang ungewöhnlich gelassen. Das Ganze ging so reibungslos vonstatten, dass sie beinahe selbst an eine natürliche Todesursache glaubte. Mandy stand in der Tür und zupfte gleichgültig an ihrer Frisur herum. In ihren Augen markierte Mrs. Walkers Tod den ganz natürlichen Endpunkt eines langen Lebens, das einen normalen Verlauf genommen hatte. Was der Wahrheit recht nahe kam.
»Danke, Mandy«, sagte sie. »Ich werde Professor Kneebone informieren.«
Der einzige heikle Moment ergab sich während des Telefonats.
Professor Kneebone sagte: »Nun ja, es war vermutlich besser
so. Was hätte man noch für sie tun können? Werden Sie die Familie informieren, Schwester?«
»Natürlich.«
Dawn wollte gerade den Hörer auflegen, als der Professor hinzufügte: »Oh, Schwester, und würden Sie ihnen bitte sagen, dass wir eine Autopsie vornehmen werden?«
Eine Windbö rüttelte am Fenster.
»Eine Autopsie?«
»Ja. Der Tod ist sehr plötzlich eingetreten, nicht wahr? Wäre doch interessant, die Ursache zu erfahren.«
Dawns Hand umklammerte den Hörer. Eine Autopsie! Daran hatte sie nicht gedacht. Warum auch? Wieso um alles in der Welt sollte irgendjemand eine Autopsie anordnen, wenn eine alte, unheilbar kranke Patientin gestorben war, die in ihren letzten Lebenswochen unter der Aufsicht von einem Dutzend Pflegerinnen und Pflegern gestanden hatte?
Dann wiederum schien es nur logisch, dass Professor Kneebone eine Autopsie als nötig erachtete. Natürlich wollte er wissen, was passiert war. Dass Mrs. Walker ausgerechnet an dem Tag gestorben war, an dem er ihre Entlassung angeordnet hatte, konnte er nicht auf sich sitzen lassen.
Wie aus dem Nichts hörte Dawn sich selbst sagen: »Ja, das wäre interessant zu wissen, in der Tat. Wobei mir natürlich bei genauerem Nachdenken unzählige Gründe für einen plötzlichen Tod einfallen.«
»Ja?«
»Sie war wirklich alt«, fuhr Dawn mit fester Stimme fort, »und dazu noch der Krebs.« Sie dachte gar nicht nach, während sie sprach; es war, als liefe ihr Gehirn, wie so oft im Notfall, wenn ihr keine Zeit zum Nachdenken blieb, auf Autopilot. »Und dann hat sie in letzter Zeit einiges durchgemacht. Die vielen Tests und Untersuchungen, bevor sie zu uns kam und Sie endlich die richtige Diagnose gestellt haben.«
»Nun ja«, sagte Professor Kneebone geschmeichelt, »Eierstockkrebs kann sehr heimtückisch sein.«
»Und dann noch diese Familie …«
»Sie meinen, die Angehörigen wären möglicherweise nicht einverstanden?« Kneebones Tonfall verriet ihr, dass er schon jetzt das Interesse verlor. »Ein guter Einwand, Schwester. Nun ja, ich denke, wir haben auch so genug zu tun. Krebs im Endstadium und dazu Alzheimer. Das müsste als Todesursache reichen.«
»Natürlich, Herr Professor. Wie Sie meinen.«
Als sie auflegte, schien die Luft im Zimmer zu flimmern. Dawn fühlte sich wie damals bei ihrem ersten Skiurlaub, als sie mit Kevin in der Gondel saß und erst nach einer Weile bemerkte, dass sie hoch über dem Abgrund in der Luft hingen. Dann fiel ihr noch etwas ein. Selbst im Fall einer Autopsie hätte man das Kaliumchlorid nicht nachweisen können. Nein, Moment, war es nicht andersherum: Im Blut von Verstorbenen wurden so oft erhöhte Kaliumwerte nachgewiesen, dass niemand sich mehr darüber wunderte? Sie wusste es nicht mehr. Nun war es auch egal. Es würde ohnehin keine Autopsie geben.
An dem Abend ging sie früh schlafen. Normalerweise las sie im Bett immer noch ein paar Seiten, aber heute knipste sie das Licht aus, sobald sie unter die Decke geschlüpft war. Sie lag auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit.
So erging es ihr oft nach einer
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