Die sanfte Hand des Todes
Es klang halb geschluchzt, halb geseufzt: »Aaaahhh.«
Dawn atmete ebenfalls aus, und alle ihre Zweifel verflogen. Es reichte. Mrs. Walker würde so oder so sterben. Unter entsetzlichen Schmerzen. Sie war ihre Patientin und Dawn für sie verantwortlich. Sie konnte unmöglich danebensitzen und untätig zuschauen, wie die alte Frau litt.
Sie führte die Nadel in die Braunüle an Mrs. Walkers Hand ein. Dann drückte sie auf den Kolben. Das Betäubungsmittel wirkte sofort. Mrs. Walker zuckte nicht einmal. Dawn drückte den Kolben ganz hinunter. Noch ein Stück, noch ein Stück, und dann war er komplett versenkt, steckte ganz in der Spritze. Es war vorbei, endgültig. Nun würde es nur noch wenige Sekunden dauern, wenn überhaupt. In letzter Sekunde und wie um sich noch einmal zu vergewissern, legte sie ihre Hand auf die von Mrs. Walker.
Dawn hatte Ivy Walker nie gekannt, und sie würde sie auch nicht mehr kennenlernen. Aber sie hatte sie lange genug gepflegt, um einiges über sie zu wissen. Ihr fein geschnittenes Gesicht war jetzt angespannt und verkniffen, aber früher hatte es bestimmt viel und gern gelacht. Das verrieten die zarten Linien in den Augenwinkeln. Jetzt hatte die alte Dame niemanden mehr, aber früher war sie geliebt worden. Von einem Ehemann, der um ihre Hand angehalten hatte.
Sie hatte ein Kind bekommen, das für kurze Zeit der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen war.
Mrs. Walkers Schultern entspannten sich. Die Ausschläge auf dem EKG-Monitor wurden immer flacher und breiter. Die Abstände zwischen den Zacken vergrößerten sich. Dawn sollte jetzt lieber gehen. Sie sollte gehen, solange niemand in der Nähe war.
Im Alter von dreißig Jahren hatte Ivy Walker auf der Gangway eines Passagierdampfers gestanden, einen Koffer zu ihren Füßen, und die frische Seeluft eingeatmet. Im Alter von zwanzig hatten sich auf der Straße die Männer nach ihr umgedreht, und sie hatte lachend ihr Haar ausgeschüttelt und war weitergegangen, denn sie hatte alle Zeit der Welt gehabt. Und als sie zwei Jahre alt gewesen war, hatte sie im Rinnstein gehockt und im Schmutz gespielt, und jeder, der sie dort gesehen hatte, die Sonne im Haar und die Welt zu ihren Füßen, hatte, ohne zu wissen, warum, im Herzen einen Stich der Hoffnung und der Sehnsucht gespürt.
Dawn sollte jetzt gehen. Sie sollte jetzt wirklich gehen.
Ein letzter grüner Ausschlag auf dem Monitor. Eine Pause. Dann nichts mehr. Nur noch zufällig erzeugte, sinnlose Muster auf dem Bildschirm, die an einen Faden erinnerten, der im Wind flatterte. Mrs. Walker ließ jetzt die Schultern hängen. Die tiefen Schmerzfalten in ihrem Gesicht glätteten und entspannten sich.
Dawn war immer noch da, und immer noch hielt sie Ivy Walkers Hand. Denn niemand sollte allein sterben.
Kapitel 4
Als sie in Silham Vale aus dem Bus stieg, regnete es immer noch. Der Himmel sah aus wie eine dunkle, tropfnasse Schüssel, die jemand über London gestülpt hatte. Noch während Dawn durch die Crocus Road lief, gingen die Straßenlaternen an. Die Dächer der Häuser, allesamt in den dreißiger Jahren erbaut, glänzten nass. Der Nebel ließ die Stadt wie eine Traumwelt erscheinen, nicht ganz real.
Auf der Veranda von Haus Nummer 59 erhob sich Milly aus ihrem Körbchen, streckte sich und gähnte.
»Hey, Mädchen. Milly, meine Liebe.« Dawn ging in die Hocke. Der dicke Hundekörper fühlte sich warm und schwer an und roch vertraut. Die schläfrige Milly legte ihren Kopf auf Dawns Knie. So hielten sie für eine Weile inne, während Dawn dem Tier über die Schlappohren strich und Milly die unerwartete Massage genoss. Die Spitze ihres linken Ohrs fehlte, denn ein anderer Hund hatte sie ihr abgebissen, viele Jahre bevor Dora sie aus dem Tierheim gerettet hatte. Nach ein paar Minuten ließ Dawn sie los und stand auf.
»Komm, du kriegst dein Abendessen«, sagte sie.
Aber als sie die Küche betrat und der Kühlschrank und die Waschmaschine im Licht der Neonröhre weiß aufleuchteten, erstarrte Dawn. Plötzlich befand sie sich wieder im kalten, sterilen Lagerraum der Station.
Niemand hatte gesehen, wie sie aus dem Einzelzimmer kam. Sie hatte sich in den Lagerraum geschlichen und die leere Spritze am Boden des Abwurfeimers versteckt. Dann
war sie in ihr Büro gegangen und hatte sich an den Notfallplan gesetzt.
Eine Stunde später hatte es an der Tür geklopft: Mandy in ihrem blassblauen Schwesternkittel mit der passenden Hose; das blonde Kraushaar hatte ihren Kopf umrahmt wie ein
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