Die sanfte Hand des Todes
Thema
Herzstillstand gehört hatte. Sie sah die beinlose Gummipuppe mit den Einweglippen vor sich, den Torso mit angeschlossenem Druckmonitor. Sie dachte an die Patienten in der Notaufnahme und auf der Herzstation, die wiederzubeleben sie mitgeholfen hatte. Aber das waren alles Erwachsene gewesen.
Dawn setzte das Kind gerade auf, dann kippte sie es über ihre Arme nach vorn. Mit dem Handballen schlug sie ihm zweimal mit aller Kraft zwischen die Schulterblätter. War das richtig? Ging man so mit einem Kind um? Sie schlug noch einmal zu. Nichts. Und jetzt? Die Finger in seinen Mund stecken? Herausziehen, was immer er verschluckt hatte? Nein, nein. Das durfte man nur, wenn das Objekt sichtbar war. Ansonsten lief man Gefahr, es noch tiefer hineinzudrücken.
Der kleine Körper in ihrem Arm begann zu zittern. Drei Minuten. Drei Minuten. Drei Minuten.
Dann geschah etwas. Alles ringsum schien zu verblassen und stillzustehen. Nur Dawns Gedanken rasten in Echtzeit weiter; im Café wurde es ringsum still. Die entgeisterten Gesichter verschwammen. Alle Stimmen verhallten, bis Dawn nichts mehr hören konnte als das starke, deutliche Pochen ihres eigenen Herzschlags.
Du weißt es, Dawn. Du weißt, was zu tun ist.
Sie legte das Kind über ihre Oberschenkel, so dass es zu Boden schaute. Dann umarmte sie es. Sie legte eine Faust an seinen Bauch, direkt über dem Nabel, und umschloss sie mit der anderen Hand. Dann drückte sie mit beiden Händen zu, nach innen und nach oben. Ein einziges, kraftvolles Mal. Hatte sie da etwas gehört? Ein Geräusch? Ein Keuchen? Sie drückte noch einmal zu.
Huuuu . Das Kind fing an, mit den Armen zu rudern. Es riss den Kopf hoch und schlug Dawn fast die Zähne aus. Da war etwas, sie konnte es sehen. Sie steckte ihm einen Finger
in den Mund, hakte ihn um das Objekt und fischte es heraus.
Das Kind holte Luft und tat einen tiefen, röchelnden Atemzug. Dann hustete es. Es sackte in Dawns Armen zusammen und hustete, als wollte es nie mehr aufhören. Zu ihrem Entsetzen wurde sein Gesicht noch dunkler.
Dann holte es wieder Luft. Und dann …
Und dann, endlich – wie der Pfiff einer sehnsüchtig erwarteten Lokomotive, die mit Verspätung in den Bahnhof einfährt –, erfolgte der Schrei.
Dawn spürte ein Knacken in den Ohren. Alles ringsum wurde wieder laut und hektisch. Sie hörte das Schluchzen der Mutter, das Getuschel der Gäste, das Trommeln der Regentropfen gegen die Fensterscheibe und hatte das Gefühl, als wäre sie gerade aus einem Schwimmbecken aufgetaucht.
»Aaaaahhhhh!« Das Kind schrie. Die Mutter schrie ebenfalls und stürzte sich auf den Kleinen.
»Ben! O Ben, Ben, Ben.« Sie riss den Jungen in die Höhe. Dawn spürte sein weiches Haar an ihrem Arm, als er ihr weggenommen wurde. Die Mutter drückte ihn an sich und wiegte ihn hin und her. Dann hielt sie ihn in die Höhe, sah ihm ins Gesicht und rief: »Mach das nicht noch mal, mach das nicht noch mal!«
Der Junge heulte noch lauter. Er strampelte ängstlich, wollte zurück in die Umarmung. Seine Mutter drückte ihn an sich. Schluchzend hielten sie einander umklammert. Der Junge vergrub sein Gesicht an ihrem Hals. Seine Haut war jetzt nicht mehr dunkelblau, sondern hell und rosig.
»Ich danke Ihnen.« Der Vater stand vor ihr. »Schwester, ich danke Ihnen. Vielen Dank.«
Er war grün im Gesicht und versuchte, Dawns Hand zu schütteln, aber er zitterte so sehr, dass er beide Hände brauchte, um die ihre zu umfassen.
»Ich bin froh, dass ich helfen konnte«, sagte Dawn. Aus ihr sprach der gesunde Menschenverstand, die praktisch denkende Oberschwester.
»Ich dachte … Ich dachte schon …«
»Ich weiß. Ich weiß, was Sie gedacht haben. Aber sehen Sie ihn sich an, es geht ihm ausgezeichnet.«
Draußen auf der Straße ertönte eine Sirene. Die beschlagene Fensterscheibe leuchtete grün und gelb, als der Krankenwagen vor dem Café hielt. Zwei Männer in Sanitäterjacken trugen eine große rote Kiste herein.
»Bewusstloses Kind?«, rief einer.
»Er hat sich verschluckt«, erklärte Dawn. »Wir haben es herausbekommen.« Sie zeigte ihnen den nassen Klumpen, eine halb zerkaute Brotkruste, die auf dem Tisch gelandet war.
Sie nahmen das Kind mit. Die Mutter ging mit dem Jungen auf dem Arm voraus, gefolgt vom Vater, der die Taschen und Mäntel trug. Der Krankenwagen heulte ein letztes Mal auf und fuhr davon. Immer neue Gäste kamen auf der Flucht vor dem Regen herein. Manche verrenkten sich den Hals nach Dawn und tuschelten, aber
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