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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
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eingeliefert und winkten lässig ab, wenn man sie ermutigen wollte: »Nein, nein, ist schon gut, lassen Sie.« Aber sobald sie die erste Spritze sahen, wurden sie ohnmächtig. Der Mann ging in die Knie und strich dem Setter über die Ohren, bis der die Augen halb schloss und sich auf den Boden legte. Dawn hatte das Gefühl, der Mann sehe sie immer wieder verstohlen an; aber sobald sie Blickkontakt mit ihm aufnehmen wollte, schaute er schnell beiseite, so als wäre es ihm unangenehm.
    »Das klingt jetzt komisch«, sagte er, »aber ich glaube, wir kennen uns.«
    »Ach ja?«
    »Ja, ich glaube, wir sind zusammen zur Schule gegangen.«
    »Wirklich?« Dawn wurde neugierig. »Sie waren auf der King?« Kein Wunder, dass er ihr bekannt vorgekommen war. Welche Klasse hatte er besucht? Die Croydon King’s Academy war riesengroß gewesen. Allein Dawns Jahrgang hatte mehr als fünfhundert Schüler gehabt. Mindestens ein Viertel davon hatte sie nicht mit Namen gekannt.
    Doch der Mann schüttelte den Kopf, während er sich wieder den langen Ohren seines Hundes widmete. »Nein«, entgegnete er, »dann habe ich mich wohl geirrt. Ich bin in Cumbria zur Schule gegangen.«
    »In Cumbria?« Dawn straffte sich. »Aber – da habe ich gewohnt.
Bis zu meinem zehnten Lebensjahr. Sie meinen doch nicht etwa die Red Barrow School in Buttermere?«
    Der Mann hob den Kopf, und plötzlich lächelte er, so dass sich seine gesamte Erscheinung veränderte und sein ernstes Gesicht fast fröhlich wirkte.
    »Genau die meine ich«, sagte er.
    Sein Akzent! Wie hatte sie es überhören können? Er dehnte die Vokale wie jemand, der aus dem Norden stammte. Auf einmal sah Dawn alles deutlich vor sich: das schiefergetäfelte Schulgebäude in der Sheepclose Lane mit seinen spitzen Dächern und Zinnen. Die glatten Holztische, die Milchflaschen mit den leuchtend roten Strohhalmen, die sie in der Pause bekamen.
    »Waren Sie in meiner Klasse?«, fragte sie.
    »Ich glaube, Sie waren ein paar Jahrgänge unter mir.« Der Mann schob sich wieder die Brille auf den Nasenrücken. »Sie heißen Torridge, oder?«
    »Ja. Dawn Torridge.«
    Er nickte. »Ich kann mich so gut an Sie erinnern, weil Ihre Familie den Bauernhof am See hatte – am Crummock Water, oder?«
    »Genau.« Dawn starrte ihn an. »Das waren wir.«
    »Wir haben ein bisschen weiter weg gewohnt«, fuhr er fort, »in den Bergen.«
    Da erkannte sie ihn wieder. In der Nähe des Crummock Water hatte es viele Höfe gegeben, und einer davon, etwa zehn Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt, hatte besonders hoch und abgeschieden gelegen. Die Familie hatte ein Kind gehabt, einen Jungen – sie hatte ihn kaum gekannt. Ein großer, blonder Einzelgänger, der oft allein auf den Feldern unterwegs war. Er war einige Jahre älter gewesen als sie. Wenn man neun oder zehn ist, erscheint einem das wie eine unüberbrückbare Kluft.

    »Will«, sagte sie.
    »Richtig!«
    Er war es tatsächlich. Sie konnte es kaum glauben. Sie hatte in der Küche seiner Eltern gestanden. Einmal hatte sie die Familie zu Weihnachten besucht, zusammen mit ihrem Vater. Sie konnte sich an den Steinfußboden erinnern und an die vielen Töpfe, die von der Decke hingen. Es hatte nach Speck und selbst gekochtem Kompott gerochen. Wills Mutter hatte Dawn ein Stück Kuchen gegeben und über ihren Jungen geredet. »Wir kriegen ihn kaum zu Gesicht. Er ist von morgens bis abends mit seinem Hund unterwegs.« Eine nette Frau war das gewesen, diese Mrs. … Der Name fiel Dawn nicht mehr ein.
    »Tut mir leid«, sagte sie, »ich kann mich nicht an deinen Nachnamen erinnern.«
    »Coombs.« Der große Mann stand auf. »Will Coombs.« Er schüttelte ihre Hand. Seine war riesig, wie die raue Hand eines Farmers.
    »Setz dich doch.« Dawn schob ihm einen Stuhl hin. Wie seltsam es doch war! Will Coombs von der Sparrowhawk Farm. Ausgerechnet hier saß er ihr gegenüber, in einem überfüllten Café in Tooting. Sein blondes Haar war inzwischen hellbraun, aber er sah immer noch so riesig und genauso einsam aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sein Gesicht wirkte durch seine kurzen, in die Stirn gekämmten Haare noch kantiger. Er erinnerte Dawn an den Butler aus der Addams Family, aber auf eine nette Art.
    »Es war wunderschön da oben.« Dawn dachte an die sanften Hügel und die grauen Cottages mit den kleinen Fenstern. »Wunderhübsch, wirklich. Ich bin seit Jahren nicht mehr dort gewesen, aber ich muss oft daran denken.«
    »Ja, es war gar nicht so übel, was?« Nun, da

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