Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
Vom Netzwerk:
bald verstellten ihnen die Neuankömmlinge die Sicht. Die Kellner wandten sich wieder ihrer Arbeit zu, räumten Tische ab und nahmen Bestellungen auf. Die Aufregung war vorbei, der dramatische Moment schon in Vergessenheit geraten.
    Dawn bückte sich nach ihrer Tasche.
    »Komm, Milly, wir gehen.«
    Aber sobald sie stand, gaben ihre Beine nach. Ihre Knie wurden weich und zittrig, so als wollten sie in die falsche Richtung einknicken. Nein, sie würde noch ein paar Minuten brauchen. Sie setzte sich wieder hin. Neben dem Tisch tauchte eine große Gestalt auf. Dawn hob den Kopf, konnte aber nicht mehr erkennen als eine Silhouette im Gegenlicht.

    »Ich bin gleich weg«, sagte sie. »Der Tisch wird in ein paar Minuten frei.«
    »Ich warte nicht auf den Tisch«, erwiderte die Gestalt.
    Es war der Mann mit dem nervösen Hund. Der, der den Krankenwagen gerufen hatte.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte er.

Kapitel 6
    Einen Moment lang war sie sprachlos. Der Mann stand über den Tisch gebeugt und sah sie durch dicke, rechteckige Brillengläser besorgt an. Er war etwa so alt wie sie, groß und stämmig und trug eine blaue Regenjacke. Er hatte dünnes, glattes hellbraunes Haar und kam ihr merkwürdig bekannt vor. Entweder hatte sie ihn schon einmal gesehen, oder er besaß ein Allerweltsgesicht.
    »Ist alles in Ordnung?«, wiederholte er.
    »Ja, danke.«
    »Ich kann’s nicht glauben.« Die Augen des Mannes hinter den Brillengläsern waren rund und weit aufgerissen. »Was Sie da eben getan haben … Ich meine …« Er rang die Hände und schien nach Worten zu suchen, die ausdrucksstark genug waren, um zu beschreiben, was er gesehen hatte. Dann gab er auf und deutete stattdessen auf den nassen Klumpen Brot, der auf dem Tisch lag.
    »Er hätte sterben können«, sagte er.
    So viel Dramatik konnte Dawn jetzt nicht verkraften.
    »Nein, er wäre nicht gestorben«, sagte sie. »Ich habe nur Erste Hilfe geleistet.«
    »Sind Sie Ärztin? Oder Krankenschwester?«
    »Krankenschwester.«
    »Unglaublich.« Der Mann schüttelte den Kopf.
    Er wiederholte das Wort immer wieder. Er war nicht so selbstsicher, wie Dawn zunächst vermutet hatte. Als er den Krankenwagen gerufen hatte, war sie davon ausgegangen,
dass er ein geistesgegenwärtiger Mensch war; aber als der Mann nun trotz seiner Größe mit gebeugten Schultern und krummem Rücken vor ihr stand, wirkte er wie jemand, der möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Sein altmodisches Brillengestell sah nach siebziger Jahren aus, so als hätte er es in einem Secondhandladen gefunden. Es war zu breit für sein Gesicht. Immer wieder musste er es sich mit dem Finger auf die Nase zurückschieben. Außerdem wirkte er sehr nervös. Sicher war er kein Mensch, dem es leichtfiel, Fremde in ein Gespräch zu verwickeln. Wahrscheinlich stand er unter Schock.
    In etwas freundlicherem Ton sagte sie: »Na ja, Sie waren derjenige, der den Krankenwagen gerufen hat.«
    »Aber der kam nicht rechtzeitig.« Der Mann wurde von seinem Hund unterbrochen, der den Kopf in den Nacken warf und ein langgezogenes, fiepsendes Jaulen ausstieß. Anscheinend hatte er genug davon, von Milly ignoriert zu werden. Milly lag zu Dawns Füßen und schaute sie immer wieder besorgt an, so als fragte sie sich, ob alles in Ordnung sei.
    »Boris. Beruhige dich.« Der Mann kniete sich neben den Hund und legte ihm eine Hand auf den Kopf. Boris setzte sich und begann zu hecheln.
    »Was für ein schönes Tier«, sagte Dawn, in erster Linie, um dem Besitzer seine Nervosität zu nehmen. Der Hund war tatsächlich schön; er bebte vor Energie und Bewegungsdrang und trippelte auf der Stelle, als wollte er jeden Moment losrennen. Sein leuchtend blaues Halsband hob sich vom rotbraunen Fell ab. Heute schienen in London besonders viele Rothaarige unterwegs zu sein.
    »Er gehört einem Freund«, erklärte der Mann. »Im Moment kann er sich nicht um das Tier kümmern, deswegen übernehme ich die Spaziergänge.«

    Milly klopfte mit dem Schwanz auf den Holzboden. Der Mann warf ihr einen Blick zu. »Sie haben aber auch einen hübschen Hund«, sagte er. »So freundlich.«
    »Sie mag gern unter Menschen sein«, meinte Dawn. »Leider ist sie die meiste Zeit des Tages allein.«
    Der Mann beruhigte sich langsam. Das Gespräch über die Hunde ließ die Farbe in sein Gesicht zurückkehren. Es war ein Klischee, aber tatsächlich schienen ausgerechnet die größten Männer die ängstlichsten zu sein. Sie wurden erhobenen Hauptes in die Klinik

Weitere Kostenlose Bücher