Die sanfte Hand des Todes
gesehen? Eine Krankenschwester, die sich um eine Patientin kümmerte. Die am Tropf herumnestelte, was
Krankenschwestern etwa hundertmal am Tag tun. Erst eine Stunde später hatte man bemerkt, dass Mrs. Walker gestorben war; da war Dawn schon längst nicht mehr im Dienst gewesen. Wie sollte irgendjemand auf den Gedanken kommen, sie hätte etwas mit dem Tod der alten, gebrechlichen, unheilbar kranken Dame zu tun?
Wieder hörte sie Geräusche vor der Tür. Ein leichtes Kratzen, ganz unten. Dawn hielt inne und lauschte.
Krrrr . Da war es wieder.
Da draußen stand einer, belauschte sie.
Dawn blieb wie versteinert am Schreibtisch sitzen und fixierte die Tür. Hinter der Jalousie bewegte sich eine dunkle Gestalt. Das Kratzen hatte aufgehört, aber die unbekannte Person stand immer noch vor der Tür. Dann setzte sich der dunkle Schatten in Bewegung, jemand hustete.
»Sie haben es fast geschafft, Mrs. Potterton.« Wieder die Stimme von Trish. »Gleich dürfen Sie wieder ins Bett.«
Ein neuerliches Kratzgeräusch war zu hören, als Mrs. Potterton ihre Gehhilfe über den Fußboden schob.
Dawn wartete ab, bis sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Sie musste nach Hause, sie musste in Ruhe nachdenken. Sicher gab es eine Erklärung; sie hatte etwas übersehen, es fiel ihr nur gerade in diesem Moment nicht ein. Der Computermonitor leuchtete hell. Plötzlich hatte Dawn furchtbare Angst. Wie lange schon saß sie vor der geöffneten E-Mail? Die Krankenhausleitung konnte alles mitlesen. Sobald man sich eingeloggt hatte, erschien der entsprechende Warnhinweis. Dawn streckte den Arm aus, um die Mail zu löschen, aber dann hielt sie inne. Sie musste sich das Ganze noch einmal durchlesen. Sie klickte auf Drucken . Die Nachricht des »Gratulanten« wurde vom Drucker unter dem Tisch ausgespuckt.
Die meisten Leute würden mir raten, zur Polizei zu gehen.
Die Wörter tanzten. Der Computer fragte: »Wollen Sie das Dokument wirklich löschen?« Dawn tippte auf die Tastatur. Ja.
Sie faltete das Blatt zu einem Rechteck zusammen, so klein, dass es in ihre Handfläche passte. Dann nahm sie ihre Handtasche vom Boden. Um zum Ausgang der Station zu gelangen, würde sie zwischen den Betten hindurchgehen müssen, an allen Mitarbeitern, Patienten und Besuchern vorbei. Benimm dich ganz normal, ermahnte sie sich. Verlasse die Station auf ruhige, beiläufige Art, suche dir einen ruhigen Ort, und denke nach. Dawn musste ihre Arme vor der Brust verschränken, weil ihre Hände so zitterten.
Der Arbeitstag neigte sich dem Ende zu. Paradoxerweise zählte der späte Nachmittag zur hektischsten Zeit auf der Station, weil dann alle Ärzte und Schwestern ihre letzte Runde drehten und die Übergabe an den Nachtdienst vorbereiteten. Ernährungsberater und Mitarbeiter der zentralen Apotheke wühlten in ihren Unterlagen. Am Schwesterntresen hatte sich eine Gruppe von Assistenzärzten versammelt, um über einen CT-Scan zu diskutieren. »Sieh mal hin. Das ist definitiv Flüssigkeit, das kann man genau erkennen.« »Das sehe ich anders. Ich finde, es sieht fest aus.« Dawn hatte schon fast die Tür erreicht, als wie aus dem Nichts Mandy auftauchte.
»Feierabend, Oberschwester?«, rief sie mit ihrer fröhlichen Nebelhornstimme. Alle Leute im Umkreis von zehn Metern drehten sich um.
»Ja.« Dawn zwang sich zu einem Lächeln. »Vielleicht schaffe ich es, vor dem Feierabendverkehr zu Hause zu sein.«
»Haben Sie noch irgendwelche Anweisungen für die Nacht?« Mandy hatte die letzte Schicht übernommen.
»Irgendwelche Anweisungen … Lassen Sie mich überlegen.« Die Kanten des gefalteten Zettels gruben sich in
Dawns Handfläche. »Mr. Hughes darf heute Abend feste Nahrung zu sich nehmen. Falls er Lust darauf hat.«
»Alles klar.«
»Und falls das Labor mit den letzten Ergebnissen anruft, informieren Sie bitte die Ärzte.«
»Moment, das muss ich mir aufschreiben.« Mandy klappte ihre Mappe auf. Sie legte sich einen Zettel übers Bein und beugte sich vor, um sich Notizen zu machen. »Ach, verdammt«, sagte sie, richtete sich auf und schüttelte den Stift. »Das blöde Ding funktioniert nicht.«
Bitte , dachte Dawn, bitte, mach schnell . Sie konnte ihren Puls am Hals fühlen. Das unwiderstehliche Verlangen überkam sie, den Zettel aufzufalten und die Nachricht noch einmal zu lesen. Sich zu vergewissern, dass sie etwas übersehen, etwas überlesen hatte, was die ganze Sache erklären würde. Während Mandy mit ihrem Stift herumhantierte, beschlich sie
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