Die sanfte Hand des Todes
hatte sie an den EKG-Alarm erinnert.
An Mrs. Walkers EKG-Alarm.
Dawn beugte sich vor und schlug die Hände vors Gesicht. Nun verstand sie. Nun war ihr klar, woher der »Gratulant« Bescheid wusste. Bevor sie Mrs. Walker tötete, hatte sie das EKG im Einzelzimmer stumm geschaltet und später vergessen. Während sie das Kaliumchlorid injizierte, war kein Alarm losgegangen, um auf die veränderten Ausschläge des EKGs hinzuweisen, die sich vom normalen zum tödlichen Rhythmus verlangsamten. Der Monitor über Mrs. Walkers Bett war von der Tür aus gut zu sehen gewesen.
Am liebsten hätte Dawn sich auf den Fußboden gelegt und sich zu einer Kugel zusammengerollt. Schluss jetzt. Hör auf damit. Es ist zu spät. Denk in Ruhe nach, überleg dir etwas. Andernfalls landest du im Gefängnis. Du wirst deinen Job verlieren und ein lebenslanges Berufsverbot bekommen. Es liegt an dir allein .
Sie zwang sich, von dem Kaffee zu trinken. Die Tasse zitterte so sehr, dass sie gegen Dawns Schneidezähne schlug. Die Frau am Nebentisch sprach in ihr Handy. Die Kellnerin stand am Tresen und wischte den Boden. Alles war wie immer.
Klappernd stellte Dawn die Tasse wieder auf den Untersetzer. Dann faltete sie den Zettel auseinander und strich ihn auf der Tischplatte glatt.
Okay. Sie bearbeitete den Knick im Papier mit der Faust. Okay. Es war passiert, sie war gesehen worden. Man hatte sie erwischt. Und nun musste sie sich mit den Konsequenzen auseinandersetzen. Das Erste und Allerwichtigste war herauszufinden, um welche Person es sich handelte. Sie musste wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Auf der Station hatte sie das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Einer ihrer Mitarbeiter hatte die Nachricht geschrieben. Aber wer? Auf der Station hatten sich heute Dutzende Menschen aufgehalten, und Dawn war in Panik hinausgerannt, ohne sich die Gesichter zu merken.
Wer immer es auch sein mochte, er oder sie war auch an dem Tag da gewesen, als Dawn … als Mrs. Walker gestorben war. Sie konnte den Kreis der Verdächtigen eingrenzen, indem sie herausfand, wer an beiden Tagen Dienst gehabt hatte. Dawn versuchte, das Ganze zu rekonstruieren. Mrs. Walker war am Tag der internationalen Forschungskonferenz gestorben. Daran konnte sie sich erinnern, weil auf der Station an jenem Tag besondere Stille geherrscht hatte. Genau genommen – Dawns Hände zogen das Papier auseinander – hatten sich an jenem Nachmittag nur die diensthabenden Krankenschwestern auf der Station befunden. Die zu ermitteln war ein Kinderspiel. Immerhin stellte Dawn die Einsatzpläne persönlich auf. Den Dienstplan in ihrem Büro nachzuschlagen würde keine Minute dauern.
Aber noch während sie nachdachte, fiel ihr etwas anderes ein. Sie wusste noch genau, welche Schwestern im Dienst gewesen waren, denn sie hatte, kurz bevor sie in Mrs. Walkers Zimmer gegangen war, überprüft, wo sich jede Einzelne von ihnen aufhielt.
Dawn griff hinter sich in die Handtasche und kramte nach einem Stift.
Mandy. Elspeth. Und Trudy Dawes, die neue Schwesternschülerin.
Diese drei. Dawn war sich absolut sicher.
Sie zog den Stift heraus. Auf die Rückseite des zerknitterten Zettels schrieb sie die Anfangsbuchstaben: M, E, T.
Dann lehnte sie sich zurück.
Also gut. Welche von den dreien war es?
In Wahrheit traute sie keiner der drei Frauen eine Erpressung zu. Sie waren Kolleginnen, bildeten ein Team. Sie hatten schon viele Schichten zusammen durchgestanden, hatten einander in schwierigen Momenten geholfen und einander unterstützt. Der Gedanke, dass eine von ihnen Dawn
hintergehen könnte, war unerträglich. Dennoch sprachen die Fakten eine deutliche Sprache. Jemand hatte die E-Mail verschickt. Jemand, der sich an Mrs. Walkers Todestag auf der Station befunden hatte – und der, erst jetzt fiel es ihr auf, ihre Mailadresse im Krankenhaus kannte. Ihre Jobadresse, von der aus sie Dienstpläne und Memos an die Mitarbeiter verschickte.
Ihre Handflächen waren so feucht, dass sie den Stift abtrocknen musste.
Also gut. Zuerst Trudy. Dawn wusste fast nichts über das Mädchen. Es hatte erst vor wenigen Wochen auf der Station angefangen. Ganz sicher ließ sich Trudy ausschließen; sie war so nervös wie das Kaninchen vor der sprichwörtlichen Schlange. Neulich war sie fast in Ohnmacht gefallen, weil sie einen Verband wechseln sollte. Eine Kollegin musste sie ins Schwesternzimmer bringen und ihr zeigen, wie man bei drohender Ohnmacht den Kopf zwischen die Knie steckt. Nie im Leben hätte Trudy
Weitere Kostenlose Bücher