Die sanfte Hand des Todes
Aspekten seiner Arbeit, das musste Dawn zugeben. Unangenehm wurde es für ihn nur, wenn er sich direkt mit den Patienten befassen sollte. Clive hätte auf den ersten Blick gemerkt, dass mit dem EKG etwas nicht stimmte. Er hätte sich gewundert, warum Dawn seelenruhig an Mrs. Walkers Bett stand, anstatt auf den Notknopf zu drücken oder sonstwie auf die Unregelmäßigkeit zu reagieren. Und er konnte sie nicht leiden, keine Frage. Ganz besonders nach ihrem Streit neulich. Es war die perfekte Gelegenheit für ihn, Rache zu nehmen und die Situation voll auszukosten.
Aber Clives Schicht war gegen Mittag zu Ende gegangen; er hatte die Station, eine halbe Stunde bevor Dawn Mrs. Walker das Kaliumchlorid spritzte, verlassen. Sie hatte es mit eigenen Augen gesehen und auch gehört, wie er auf dem Weg hinaus mit den Türen knallte. Er war nicht der Typ, der an seinem freien Nachmittag eine Sekunde länger auf der Station blieb als nötig. Ihm wäre es am ehesten zuzutrauen, aber er kam als Absender nicht infrage.
Dawn ließ den Stift fallen. Es war sinnlos. Es führte zu nichts, hier zu sitzen und sich Notizen zu machen. Woher wollte sie überhaupt wissen, dass sie beobachtet worden war? Möglicherweise war sie auf dem Holzweg; der Erpresser könnte auf anderem Weg die Wahrheit über Mrs. Walker herausgefunden haben, vielleicht sogar auf Wegen, von denen Dawn nichts ahnte.
Das schweißnasse Papier war gerissen; an manchen Stellen hatte die Tinte den Zettel aufgeweicht. Dawn versuchte halbherzig, das Schreiben wieder zusammenzusetzen. Schließlich nahm sie den Zettel und zerriss ihn. Die Papierfetzen stopfte sie in ihre leere Cappuccinotasse. Sie rührte sie mit dem Löffel um und drückte das Papier in den braunen,
cremigen Schaum, so dass niemand in der Lage wäre, die Wörter noch zu entziffern.
Zu Hause kam Milly ihr entgegengestürmt, leckte ihre Hände ab, keuchte und japste vor Aufregung. Ihr langer Schwanz schlug gegen Dawns Schienbein. Sie klopfte die warmen, kräftigen Flanken des Hundes. Millys unschuldige, ungetrübte Freude schnürte ihr fast die Kehle zu. Dawn dachte: Sie weiß nicht, was ich getan habe.
In der Küche öffnete sie eine Dose von Millys Lieblingsfutter, Kaninchen in Sauce. Aber selbst als sie das Fleisch in die Plastikschüssel füllte, lief ihr Gehirn noch auf Hochtouren.
Die Frage nach dem Wer hatte sie zunächst beiseitegeschoben. Selbst wenn es sich beim Erpresser um Elspeth oder Trudy oder Mandy handelte, hätte Dawn keine Möglichkeit, Genaueres herauszufinden. Letztlich ging es nur um eine Frage: Was sollte sie tun?
Auf der Heimfahrt im Bus war sie an einer Polizeiwache mit der vertrauten blau-weißen Laterne draußen vorbeigekommen. Sie spielte kurz mit dem Gedanken auszusteigen und einfach hineinzumarschieren. Erpressung war eine Straftat. Die Polizei wäre in der Lage, den Erpresser über die Deckadresse in Essex zu identifizieren. Dawn hatte im Internet recherchiert. Wie sich herausstellte, wurden die Sendungen von einem privaten Anbieter abgeholt und an den Empfänger ausgeliefert. Die verschiedensten Kunden griffen darauf zurück: Geschäftsleute, die vorgaben, in einem schickeren Stadtteil zu residieren; Frauen, die verhindern wollten, dass ein gewalttätiger Exfreund ihre neue Wohnadresse erfuhr. Die Firmen, die die Post weiterleiteten, versprachen Sicherheit und Diskretion. Sie warben damit, dass nicht einmal die Polizei die wahre Adresse eines Kunden herauszufinden
vermochte. Aber sicher wären sie gezwungen, die Details herauszugeben, wenn ein Verbrechen vorlag?
Ja. Und dann? Erpressung war eine Straftat, aber Mord eine noch schlimmere. Ein Blick in die E-Mail, und die Polizei würde sich viel mehr für Dawn interessieren als für irgendwelche Erpresser.
Nein. Die Polizei stellte keine Option dar.
Während Milly ihre Kaninchenhäppchen verschlang, lief Dawn unruhig in der Küche herum und wischte mit einem Lappen die ohnehin schon sauberen Wasserhähne, Oberflächen und Schubladen blank.
Was also sollte sie tun? Die Mail ignorieren?
Bei dieser Lösung landete sie immer wieder. Sie erschien ihr am vernünftigsten. Auf Erpressungsversuche durfte man gar nicht erst eingehen. Das wusste jeder. Sobald die unbekannte Person sie einmal in der Hand hatte, würden die Forderungen kein Ende nehmen. Aber was könnte passieren, wenn sie sich weigerte zu zahlen? Hatte der Erpresser Beweise, um die lächerlichen Anschuldigungen zu untermauern? Mrs. Walker war eingeäschert worden.
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