Die sanfte Hand des Todes
Es gab keine Leiche mehr, die man hätte untersuchen können. Egal, was der Erpresser gesehen oder gehört hatte, am Ende würde Aussage gegen Aussage stehen.
Während es immer später wurde, gelangte Dawn zu der Ansicht, dass das die beste Vorgehensweise wäre. Wenn sie die Nachricht ignorierte, würde sie ein paar Nächte lang schlecht schlafen, aber am Ende würde der Erpresser aufgeben. Vielleicht käme er sogar auf den Gedanken, sich getäuscht zu haben. Es war gewagt, von einer Krankenschwester am Patientenbett auf einen vermeintlichen Mord zu schließen. Jemand wollte Dawn auf die Probe stellen und herausfinden, wie sie reagierte. Nun, falls es so war, würde er oder sie nicht weit damit kommen.
Zum ersten Mal, seit sie die Nachricht gelesen hatte, schien sich das enge Band zu lockern, das Dawns Brustkorb zusammenschnürte. Sie kochte Kaffee und setzte sich vor den Fernseher, auch wenn sie kaum wahrnahm, was an diesem Abend lief. Doch kurz vor dem Schlafengehen brach ihr neu gewonnenes Selbstbewusstsein wieder in sich zusammen.
Sie musste es akzeptieren. Der Absender der E-Mail hatte nicht geraten. Sie haben Ivy Walker sehr unauffällig umgebracht . Sie war gesehen worden, andernfalls hätte man sie nicht persönlich angeschrieben. Und dann fiel Dawn noch etwas ein. Selbst wenn der »Gratulant« keine Beweise hatte, war auch anderen Mrs. Walkers plötzliches Ableben ungewöhnlich erschienen. Professor Kneebone hatte selbst gesagt, wie sehr der Tod der Patientin ihn überrascht habe. Und Dr. Coulton war in der Kantine sehr verwundert gewesen zu hören, dass die Patientin gestorben war. Wer sonst noch würde Zweifel anmelden, wenn er im Nachhinein befragt würde? Falls man Geoffrey Kneebone fragte, warum die Patientin nicht obduziert worden sei, würde er sich daran erinnern, dass Dawn ihm eine Autopsie ausgeredet hatte. Und sie war zur Beerdigung gegangen, obwohl sie Celia Dartson gegenüber zugegeben hatte, Mrs. Walker kaum zu kennen. Nicht dass etwas falsch daran wäre, zur Beerdigung einer Patientin zu gehen. Aber wenn man den Gesamtzusammenhang betrachtete …
Wieder zog sich das enge Band um ihren Oberkörper zusammen. Kein Krankenhaus war erpicht darauf, in der Presse aufzutauchen, schon gar nicht das St. Iberius, das gerade dabei war, sich als Kompetenz- und Forschungszentrum zu etablieren. Und dann so ein Vorfall. Egal, wie unhaltbar die Vorwürfe auch sein mochten, man würde ihnen gründlich nachgehen und der Bevölkerung beweisen müssen, dass die Sicherheit der Patienten im St. Iberius an erster Stelle stand.
Eine Oberschwester, die eine Patientin ins Jenseits befördert haben soll? Dawn drehte sich der Magen um.
Später lag sie verzweifelt im Bett. Das Licht der Straßenlaterne tauchte den Raum in ein düsteres Orange.
So oder so würde sie ihren Job verlieren. Ob es genügend Beweise gab, sie ins Gefängnis zu bringen, stand auf einem anderen Blatt. Nur eins wusste sie mit Gewissheit: Falls auch nur der Hauch eines Zweifels bestand, ob die Patienten bei ihr in guten Händen waren, würde das Krankenhaus sie entlassen.
Dawn drückte die Fingernägel in ihre Handballen.
Könnte sie den Erpresser bezahlen? Wenn es unbedingt sein musste? Fünftausend Pfund. Dawn war alles andere als reich. Drei Jahre lang hatte sie sich fast allein um die Großmutter gekümmert, darüber hinaus hatten sie die Umbauten im Badezimmer im Erdgeschoss und die Rollstuhlrampe vor der Veranda finanzieren müssen. Dawn und ihre Großmutter hatten über keine Versicherung verfügt und alles aus eigener Tasche bezahlen und am Ende eine Hypothek auf das Haus aufnehmen müssen. Dawn zahlte die Hypothek ab, so dass von ihrem Gehalt am Monatsende kaum noch etwas übrig blieb. Trotzdem, sie würde die Summe auftreiben können. Der Betrag entsprach in etwa ihren Ersparnissen.
Im Augenwinkel nahm sie eine Bewegung war. Ein Huschen über die Wand, ein dunkler Fleck inmitten dunkler Flecken. Dann löste sich eine Gestalt aus dem Schatten und stieg im Zimmer auf.
Dawns Herz begann zu klopfen. Instinktiv beschloss sie, auf dem Rücken liegen zu bleiben, geradeaus zu starren und sich auf keinen Fall zu der Gestalt umzudrehen. Sie bekam das übermächtige Gefühl, sich nicht allein im Zimmer zu befinden. Der Umriss nahm Formen an und wurde zu einer Person. Eine erwachsene Frau in einem dunklen Kleid,
die dicht über dem Boden schwebte. Die Gestalt kam näher. Schon war sie am Kleiderschrank neben dem Bett. Jesus Christus! Dawn
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