Die sanfte Hand des Todes
hob den Kopf. Die Gestalt zuckte zusammen und glitt in den Schatten zurück. Als es Dawn gelungen war, mit zittrigen Fingern die Nachttischlampe anzuknipsen, erkannte sie ihre dunkle Schwesternuniform, die an einem Bügel am Kleiderschrank hing.
Sie ließ sich wieder in die Kissen fallen.
»Ich bin es nur«, hatte sie beim Betreten von Mrs. Walkers Zimmer gesagt. Und Mrs. Walker hatte sich entspannt, denn sie wusste, nun würde alles gut. Die Oberschwester war gekommen. Der Mensch, dem sie ihr Leben anvertraut hatte, der sie pflegen und beschützen würde.
Dawn lag stocksteif im trüborangen Licht da.
Du hast es nicht besser verdient , dachte sie.
»Bett sechs ist erst um zwei Uhr eingeschlafen«, berichtete Pam, die Nachtschwester. »Ich habe ihr eine Temazepam gegeben, und zwanzig Minuten später war sie ruhig.«
Die Tagschicht machte sich Notizen. Dawn lehnte sich im Sitzen zurück, um den Halbkreis aus Mitarbeitern, der sich um den Tresen gebildet hatte, unbemerkt im Auge zu behalten. Warf Elspeth ihr verdächtig oft Blicke zu? Wirkte Trudy heute fahrig und nervös?
Dawn hatte gar nicht geschlafen und mit dem Gedanken gespielt, sich krank zu melden. Allein die Vorstellung, dem unbekannten Erpresser gegenübertreten zu müssen, zu wissen, dass sie von ihm beobachtet wurde, erschien ihr unerträglich. Aber als am Morgen der Wecker geklingelt hatte, kam ihr ein Tag auf der Station weniger schlimm vor als weitere schlaflose Stunden in ihrem stillen Haus. Bei der Arbeit würde es ihr besser gehen. Dort wurde sie abgelenkt, konnte sich auspowern. Sie würde sich mit niemandem unterhalten,
wenn es nicht unbedingt notwendig war. Sie konnte mit gesenktem Kopf durch die Station gehen und nur reden, mit wem sie reden wollte.
Nach der Ablösung schloss sie sich in ihrem Büro ein. Zur Tarnung breitete sie ein paar Zettel vor sich auf dem Schreibtisch aus. Dann schaute sie durch die kleine Glasscheibe in der Tür auf die Station hinaus und beobachtete ihre Mitarbeiter bei der Arbeit.
Bei der Übergabe war ihr ein Gedanke gekommen. Mit dem Versenden der E-Mail war der Erpresser ein Risiko eingegangen. Falls Dawn sich entschied, zur Polizei zu gehen, würde die betreffende Person mindestens ihren Job verlieren. Fünftausend Pfund waren viel Geld, aber als Arbeitsloser konnte man nicht lange davon leben. Entweder war sich der Erpresser absolut sicher, nicht erwischt zu werden, oder er benötigte das Geld so dringend, dass er das Risiko freiwillig einging. Wer von den drei Verdächtigen könnte so sehr auf fünftausend Pfund angewiesen sein?
Mandy war gerade dabei, eine Frau mit Krampfadern in die Station aufzunehmen. Sie zeigte der Patientin ein Foto ihres Sohnes Jason, wie er schlammverschmiert einen Fußballpokal in die Höhe stemmte. Mandy breitete ihr Privatleben vor jedem aus, der es hören wollte. Für ihr Kind hätte sie alles getan. Von fünftausend Pfund konnte man Klassenreisen, Fußballcamps und neue Schuhe bezahlen. Dawn sah, wie Mandy sich zu der Patientin aufs Bett setzte – schon wieder! – und die zwei zu plaudern begannen wie alte Freundinnen. Wie schaffte Mandy es bloß, sich innerhalb kürzester Zeit mit einfach jedermann anzufreunden? Auch Dawn suchte den Kontakt zu den Patienten, und im Lauf der Jahre hatte sie zu manch einem ein Vertrauensverhältnis aufbauen können; aber nie im Leben wäre sie fähig, sich so unbefangen mit einer Unbekannten zu unterhalten. Wäre Mandy
in der Lage, so fröhlich draufloszuplappern, wenn sie insgeheim ihre Chefin erpresste, die nur wenige Meter entfernt am Schreibtisch saß?
Elspeth tauchte in Dawns Blickfeld auf. Sie schob den Medikamentenwagen vor sich her und wirkte so gleichgültig wie immer; unmöglich zu erraten, was sie gerade dachte. Elspeth war mit Abstand die attraktivste Krankenschwester der Station, schlank und dunkel, mit hohen Wangenknochen und kleinen Zähnen, die Dawn an die einer Katze erinnerten. Einzig ihr dauergelangweiltes Gesicht war unattraktiv. Sie teilte die Medikamententabletts an die Patienten aus und ging wortlos von Bett zu Bett. Mit der schwatzhaften Mandy hatte Elspeth nichts gemein. Das war nicht unbedingt schlecht; nicht jeder musste so leutselig sein. Zu den Aufgaben einer Oberschwester gehörte auch, den Mitarbeiterinnen jene Patienten zuzuteilen, die ihnen lagen. Elspeth war gut für solche Aufgaben geeignet, die rasch erledigt werden mussten, beispielsweise junge Patienten auf die OP vorzubereiten und nacheinander
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