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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
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abzufertigen. Mandy kam besser mit den langsamen, gebrechlichen Patienten zurecht, die jemanden zum Reden brauchten. Aber trotz Elspeths Kompetenz war nicht zu übersehen, dass ihre Interessen und Gedanken anderswo waren. Sie verrichtete ihre Arbeit auf mechanische, gefühllose Weise, ohne Wärme oder Mitgefühl, was den Patienten sicherlich nicht entging. Manche wagten es nicht einmal, sie beim Waschen oder mit dem Nachtstuhl um Hilfe zu bitten, und warteten lieber auf Dawn oder Mandy. Elspeth wollte nicht für immer am St. Iberius bleiben; bedeutete das, dass sie sich als Krankenschwester auf Zeit betrachtete? Was würde sie mit fünftausend Pfund anfangen?
    Trudy, die Schwesternschülerin, kniete neben Bett achtzehn und zerrte an einem Urinbeutel herum. Offenbar hatte
sie Probleme, den steifen Katheterschlauch vom Beutel zu lösen. Vom Patienten war nicht mehr zu sehen als ein grauer, gelockter Haarschopf, der hinter einer aufgeschlagenen Ausgabe des Telegraph hervorlugte. Trudy zog erst zögerlich am Beutel, dann kräftiger. Der Telegraph sank, und zum Vorschein kam das leicht lila angelaufene Gesicht des Patienten. Er hielt sich den Unterleib und warf Trudy böse Blicke zu, während seine Lippen sich sehr schnell bewegten. Trudy wurde knallrot und zupfte noch hilfloser an dem Beutel herum. Dawn musste nichts hören, um zu wissen, dass die Kleine sich mit tränenerstickter Stimme entschuldigte. Sorry. Sorry. Es tut mir so leid.
    Schwesternschülerinnen verdienten kaum mehr als ein Taschengeld. Wer wusste schon, wozu Trudy fünftausend Pfund brauchte? Für einen Urlaub? Um einen Kredit abzubezahlen? Für Lebensmittel? Andererseits wirkte sie so schüchtern und verschreckt. Daphne aus der Orthopädie hatte berichtet, dass Trudy, als sie auf ihrer Station arbeitete, die Verwandten einer jungen Patientin verärgert hatte. Jedes Mal, wenn sie sich um das Mädchen mit dem Rückenmarkstumor kümmern sollte, war sie in Tränen ausgebrochen.
    »Die hält nicht lange durch«, hatte Daphne geschnaubt. »Sie ist viel zu sensibel, um Krankenschwester zu werden.«
    In Dawns Augen war man keine schlechte Krankenschwester, nur weil man sensibel war. Dennoch sollte man in der Lage sein, sich zusammenzureißen, seine Arbeit anständig zu erledigen und den Patienten das zu geben, was sie brauchten. Trudy schien die Nerven zu verlieren, sobald sich der Zustand eines Kranken verschlechterte. Wahrscheinlich hätte sie sich, falls sie Zeugin von Dawns Aktion gewesen wäre, irgendwem anvertraut. Mandy vielleicht oder einer der anderen Schwesternschülerinnen. Vielleicht sogar der Polizei. Oder sie hätte geschwiegen, aus Angst. Aber ein so
berechnendes, kaltblütiges Vorgehen – die Deckadresse, die Geldforderung. Nein. Das traute Dawn ihr nicht zu.
    Die Bürotür öffnete sich schwungvoll und knallte gegen die Schreibtischkante.
    »Kaffee?« Mandy stand im Türrahmen.
    »Nein. Nein, danke. Nicht nötig.«
    Mandy rührte sich nicht vom Fleck.
    »Irgendwas ist doch«, sagte sie.
    »Wie bitte?«
    »Ja. Den ganzen Vormittag verschanzen Sie sich hier drin. Beobachten uns durch die Glasscheibe. Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich.«
    »Nein, es ist nur so … Ich habe jede Menge Papierkram zu erledigen.«
    »Ach so.« Mandy trat ein. »Ich dachte schon, Sie haben etwas auf dem Herzen.« Sie hockte sich auf die Schreibtischkante und schob die Tastatur und die Schale mit den Büroklammern zur Seite. »Ganz schön heiß heute, oder?«, fragte sie und wedelte sich mit einem Blatt Luft zu. »Schwül.« Sie war geschwätzig, selbst für ihre Verhältnisse. »Hoffentlich gibt es auf unserer neuen Station eine Klimaanlage. Ich frage mich, wohin ich Jason in die Ferien schicken soll, wenn die Schule dichtmacht.«
    Dawn wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Mandy ging und sie in Ruhe ließ. Aber dann ließ sie Mandys Geplapper über die einwöchige Reise nach Euro Disney mit einem geduldigen Lächeln über sich ergehen. Sie konnte doch nicht in jedem einen Feind sehen.
    Als Mandy endlich gegangen war, war Dawn zu einer Erkenntnis gelangt.
    Sie musste diese Station verlassen. Selbst wenn sich die Sache mit dem Erpresser aufklärte oder er sich zu absolutem Stillschweigen verpflichtete, würde sie nie wieder unbefangen
zur Arbeit gehen können. Sie würde immer daran denken müssen, dass eine der Krankenschwestern alles über sie wusste. Sie konnte ihre Arbeit nicht mehr richtig erledigen und keine gute Oberschwester sein, wenn sie ängstlich

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