Die sanfte Hand des Todes
Coulton.
»Verzeihung«, rief sie, »Dr. Coulton!«
Dr. Coulton hielt inne, wandte den Blick aber nicht von der Tür ab. Ganz offensichtlich war er über die Störung nicht gerade erfreut. »Ja?«
Dawn holte ihn ein. »Es geht um Danielle Jones. Würden Sie ihr bitte, bevor Sie gehen, einen Venenkatheter legen?«
»Dafür habe ich keine Zeit«, entgegnete Dr. Coulton, »ich werde anderswo erwartet.«
Er setzte sich wieder in Bewegung. Dawn lief ihm nach. »Es wäre wirklich wichtig«, sagte sie entschlossen, »dass Sie es sofort tun. Die Patientin ist dehydriert.«
Wieder blieb Dr. Coulton stehen. Er zog die Augenbrauen zu einem gereizten V zusammen. »Dann hätte sie sich«, sagte er, »vor ein paar Minuten, als ich mit ihr sprach, kooperativer verhalten sollen.« Ganz offenbar ärgerte er sich darüber, von einer Patientin als Dr. Tod bezeichnet worden zu sein.
Dawn sagte: »Nun ja, wenn Sie ein wenig mehr Verständnis gezeigt hätten …«
»Verständnis wofür? Falls sie auf meine Meinung keinen Wert legt – es gibt eine Menge anderer Patienten, die es tun. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden. Ich habe zu tun.«
Er legte eine Hand auf die Türklinke. Dawn hatte wieder das Bild der weinenden Danielle vor Augen. In scharfem Ton sagte sie: »Meinen Sie nicht, dass sie jetzt ebenfalls lieber bei der Arbeit wäre?«
Dr. Coulton drehte sich um und musterte Dawn von oben bis unten. Sein Blick blieb an den braunen Flecken hängen. Sie rechnete mit einem Kommentar, aber stattdessen schaute er zum Einzelzimmer hinüber.
Wie aus heiterem Himmel sagte er: »Wie ich sehe, haben Sie die Jalousie reparieren lassen.«
»Wie bitte?«
»Ich sagte: Wie ich sehe, haben Sie die Jalousie reparieren lassen.«
»Natürlich.« Was führte er im Schilde? »Das ist wichtig, um die Privatsphäre der Patienten zu schützen.«
»Und die der Mitarbeiter«, sagte Dr. Coulton.
»Wie bitte?«
Dr. Coulton antwortete nicht. Er stieß die Tür auf und eilte
mit langen Schritten davon. Dawn schaute ihm verblüfft nach. Wie hatte er das gemeint? Was hatte die Jalousie mit ihrem Anliegen zu tun? Sie betrachtete das kleine Fenster in der Tür. Die Jalousie war oben. Sie konnte Lewis’ EKG-Monitor sehen, der über dem Bett vor sich hintackerte.
Ihr Mund wurde schlagartig trocken.
Der Tag in der Kantine. Dr. Coulton, der plötzlich hinter ihr in der Warteschlange stand. Ich bewundere Sie …
Sie musste sich irgendwo abstützen. An einem Tisch oder an der Wand, notfalls am Boden. Der Lagerraum war leer. Dawn ging hinein und stützte beide Arme auf die Arbeitsfläche. Ruhig , ermahnte sie sich, ganz ruhig . Sie reagierte über. Wegen dieser E-Mail mit dem Morphium lagen ihre Nerven blank. Dr. Coulton hatte es nur so dahingesagt. Er konnte sie unmöglich mit Mrs. Walker gesehen haben. Er war an jenem Tag nicht einmal auf der Station gewesen.
Das Gefühl kehrte in ihre Beine zurück. Sie richtete sich wieder auf. Von hier aus war Lewis’ Zimmer gut einzusehen, die Tür mit dem braunen Holzfurnier, das rechteckige Fenster in der Mitte. Und dann fiel ihr noch etwas auf, so als wäre sie auf einen Berg gestiegen und hätte freie Sicht auf die Landschaft. Der Haupteingang der Station befand sich direkt neben dem Einzelzimmer. Wenn man durch die Tür trat, war Lewis’ EKG-Monitor das Erste, was man sah.
Dawn zuckte zusammen, so als hätte sie zwischen den Mullverbänden eine Schlange entdeckt. Ich bewundere Sie . Dr. Coultons Verwunderung, als sie ihm von Ivy Walkers Tod berichtet hatte. Er gehörte zum Ärzteteam; unmöglich, dass er ihr Fehlen an jenem Morgen nicht bemerkt haben sollte. Dann wiederum – falls Dr. Coulton an jenem Tag tatsächlich durch die Tür gekommen war und gesehen hatte, was Dawn tat, hätte er sie sofort zur Rede gestellt. Bei der Klinikleitung verpfiffen. Ein so erfahrener Arzt wie er! Er wäre
verrückt, wegen so einer Sache seine Karriere aufs Spiel zu setzen. Außerdem wusste er besser als jeder andere, wie viel eine Ampulle Morphium wert war.
Dawn stützte sich auf beide Ellbogen und schob sich die Haare aus dem Gesicht. Dass sie wegen eines beiläufigen Kommentars, wegen einer Jalousie zu solchen Schlüssen kam, bewies nur, dass sie vollkommen von der Rolle war. Das Einfachste wäre, Dr. Coulton zu fragen und die Sache damit aus der Welt zu schaffen. Sie sollte ihm jetzt sofort nachlaufen und nachfragen, wie er es gemeint habe.
Aber schon im nächsten Augenblick nahm sie von dem Gedanken
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