Die sanfte Hand des Todes
Abstand. Wenn Dr. Coulton nicht der »Gratulant« war, würde es ihm möglicherweise verdächtig vorkommen, dass sie ihm nachlief und seltsame Fragen stellte. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war, mit dem Einzelzimmer in Verbindung gebracht zu werden.
Sie nahm ein leises Scharren hinter sich wahr und drehte sich um. Aus dem dunklen Lagerraum kam ihr etwas entgegen. Ein gespenstischer, dunkler Schatten schob sich über den Boden. Dawn machte einen Satz zurück und stieß sich den Ellbogen an der Kante der Arbeitsplatte.
»Au!«
Auch der Schatten stieß einen Schrei aus. Im nächsten Moment sprang die Neonröhre an der Decke mit einem Flackern an. Der gespenstische Schatten verwandelte sich in eine ganz normale Krankenschwester in weißem Intensivstationskittel.
»Verdammt, Dawn !« Francine stand an der Wand, eine Hand am Lichtschalter, die andere am Hals. »Ich wollte dich nicht erschrecken und mir nur etwas Labetalol holen. Ich wusste ja nicht, dass jemand hier herumschleicht …«
»Nein, ich … ich habe nur etwas gesucht.«
Francine lachte nervös. »Sieh uns nur an. Wir sind zwei
Nervenbündel.« Sie lächelte Dawn an, bis sie den braunen Fleck auf Dawns Uniform entdeckte. Auf einmal fiel Dawn wieder ein, was sie die Freundin hatte fragen wollen.
»Fran«, sagte sie, »ich glaube, ich muss mir nächste Woche freinehmen. Urlaub machen.«
Francines Lächeln kehrte zurück. »Das ist eine tolle Idee, Dawn. Ich habe es dir doch gesagt, du brauchst dringend Erholung.«
»Es ist nur so«, fuhr Dawn fort, »ich benötige eine Vertretung. Es wird nicht viel zu tun sein, aber man weiß ja nie. Das ist jetzt ein bisschen kurzfristig …«
»Nein, nein«, meinte Francine und hob eine Hand, »sag nichts mehr. Nimm dir frei, und plane deinen Urlaub, und erhole dich. Hast du dir ein schönes Ziel ausgesucht?«
»Tja … mal sehen …« Eigentlich hatte sie ihren Urlaub im Lake District verbringen wollen. Aber das kam nicht mehr infrage, nun, da sie in Schwierigkeiten steckte.
»Ich habe mich noch nicht entschieden«, sagte sie und fühlte sich unglaublich erleichtert. Sie hatte eine weitere Hürde genommen. Offenbar machte es Francine nichts aus, für sie einzuspringen. Nun musste sie nur noch eine einzige Tagschicht bewältigen. Danach die beiden Nachtschichten, die verhältnismäßig einfach waren, und dann würde sie frei sein. Und wenn sie auf die Station zurückkehrte, wäre der Albtraum vorbei.
»Danke, Francine«, sagte sie.
Für den Heimweg mit dem Bus hatte Dawn sich ihre Jacke über die OP-Kleidung gezogen. Die Plastiktüte mit ihrer schmutzigen Uniform lag auf ihren Knien. Wann immer der Bus ruckelte, entwich der säuerliche Geruch von Erbrochenem. Danielle hatte den Glukokortikoidtropf doch noch bekommen. Als Dawn die Station verließ, hatte Danielle tief
und fest geschlafen, auf dem Rücken liegend und mit leicht geöffnetem Mund. Ihr verheultes Gesicht hatte ausgesehen wie das eines Kindes. Dawns Nacken, Arme und Schultern schmerzten. Sie war den ganzen Tag in Habtachtstellung gewesen, so wie ein Vogel im Winter, der sich ängstlich umschaut und Krumen aufpickt.
Nun hatte sie es endlich begriffen. Nicht nur Dr. Coulton war an jenem Tag möglicherweise durch die Doppeltür getreten, sondern alle, die im St. Iberius arbeiteten. Alle Pharmazeuten, Pflegekräfte, Ernährungsberater. Trish, die Physiotherapeutin. Professor Kneebone. Einfach alle. Es war naiv von ihr gewesen, den Kreis der Verdächtigen auf drei Personen einzugrenzen. Dawn ließ den Kopf an die Fensterscheibe sinken, schlug versehentlich mit dem Gesicht dagegen. Die Berührung verursachte ein taubes Gefühl in Lippen und Nase. Und obwohl sie vor einem Haufen von Möglichkeiten stand, kehrten ihre Gedanken immer wieder zu Dr. Coulton zurück. Seine höhnische Miene, und wie er sich zum Einzelzimmer umgedreht hatte … Die Privatsphäre der Mitarbeiter . Es musste etwas zu bedeuten haben, warum sonst hätte er es sagen sollen? Und die Sache mit dem Morphium war, dachte man einmal darüber nach, gar nicht so rätselhaft. Die Ärzte waren für ihre Unwissenheit bekannt. Obwohl sie es tagtäglich mit den unterschiedlichsten Patienten zu tun hatten, sahen sie nie den Menschen, sondern immer nur die Krankheit; und danach wandten sie sich schnellstmöglich ihren Fachzeitschriften, ihren Rugbyclubs und ihren Ärztefreunden zu. Sie und Francine hatten oft darüber gescherzt, wie einfach es wäre, die Ärzte übers Ohr zu
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