Die sanfte Hand des Todes
Gesehene zu verschweigen. Abgesehen davon lag die Tagesklinik zu weit vom Einzelzimmer entfernt. Niemals hätte Mandy den EKG-Monitor von dort ablesen können, es sei denn, sie hätte Adleraugen. Trudy stand im Lagerraum und packte eine neue Lieferung Venenkatheter aus. Mit ernstem Spitzmausgesicht räumte sie Platz im Regal frei. Auch Trudy hatte sie nie ernstlich verdächtigt. Ganz im Gegenteil, sie war dabei,
sich auf der Station gut zu machen. Ihre anfängliche Fahrigkeit war verflogen, und sie gab sich zunehmend selbstbewusst. Wie gut sie am Vortag den Zwischenfall mit Danielle gemeistert hatte! Sie hatte Herz gezeigt und sich für eine Patientin eingesetzt, obwohl diese als schwierig galt.
Nein – der Einzige, auf den alle Kriterien eines Erpressers zutrafen, war Dr. Coulton. Sie hatte zwar keine Beweise, aber Dawn konnte nicht anders, als ihn zu verdächtigen. Es entsprach seiner Persönlichkeit. Er war eiskalt und berechnend genug, um so etwas durchzuziehen und die nötigen Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Zudem war er arrogant genug, den Zustand der Jalousien zu kommentieren – wahrscheinlich hielt er die Anspielung für zu subtil, um von Dawn verstanden zu werden. Und selbst wenn sie sie verstand – Dr. Coulton schien sich offenbar sicher zu sein, Dawn in der Hand zu haben. Dass er Arzt war, hieß noch lange nicht, dass er das Geld nicht brauchte. Hatte Mandy nicht gesagt, er sei in der Forschung tätig? Die Forschungsstellen am St. Iberius waren gefragt, aber schlecht bezahlt. Möglicherweise hatte Dr. Coulton Schulden. Niemand wusste, wie er lebte. Niemand kannte ihn näher. Seine einzigen Gesprächsthemen waren Laborergebnisse und Blutbilder. Harmlosen Konversationsversuchen begegnete er mit verständnislosem Blick. Selbst sein Alter war schwer zu schätzen. Er musste ungefähr so alt wie Dawn sein, aber mit der verkniffenen Miene und der hohen Stirn wirkte er viel älter. Dawn stellte sich vor, wie er abends in eine karge Souterrainwohnung zurückkehrte, wo eine nackte Glühbirne von der Decke hing und es statt Möbeln nur Bücher und Papierstapel gab. Inzwischen war ihr eingefallen, dass er auf der Station gewesen war, als sie das Gefühl gehabt hatte, beobachtet zu werden. Er hatte zusammen mit anderen vor dem Tresen gestanden und über einen CT-Scan diskutiert.
Es war fast schon Mittag. Sie musste noch einen Rundgang machen, bevor das Essen ausgeteilt wurde. Sie fing bei Lewis im Einzelzimmer an.
»Wie ich hörte, gibt es gute Neuigkeiten«, sagte sie so fröhlich wie möglich. »Du hast einen Operationstermin bekommen?«
»Ja. Freitag.«
Dawn nickte in Richtung des Metallgestells, in dem Lewis’ Unterschenkel steckte. »Bestimmt kannst du es kaum erwarten, das Ding loszuwerden?«
»Ja, endlich.« Lewis’ Begeisterung klang ein wenig künstlich.
»Nervös?«, fragte sie.
Lewis zupfte an seiner Decke. »Eigentlich nicht. Es ist nur … Es könnte etwas schiefgehen.«
»Wie meinst du das?« Dawn setzte sich neben das Bett.
Lewis zuckte die Achseln, zupfte weiter an der Decke. »Ich weiß auch nicht. Komplikationen. Allergische Reaktionen. Was es halt so gibt.«
»Aber die erste Operation hast du doch schon hinter dich gebracht. Als der Fixator angebracht wurde. Und die ist doch gut verlaufen, oder?«
»Ja, aber die zweite dauert viel länger. Ich muss ständig daran denken. Wenn irgendwas schiefgeht … Wenn ich ein Bein verliere … Ich weiß nicht, was ich dann tun würde.«
Dawn tippte gegen das Metall. »Das darfst du nicht denken«, sagte sie. »Wir haben sehr erfahrene Chirurgen. Die Wahrscheinlichkeit, dass etwas Schlimmes passiert, ist sehr gering.«
»Ich weiß, ich weiß. Das haben die Ärzte mir auch erklärt. Aber ich kann mir nicht helfen, ich habe einfach ein ungutes Gefühl.« Lewis verschränkte die Hände hinter dem Kopf und blies die Backen auf. »Ich weiß, wie albern das ist.«
»Es ist kein bisschen albern«, entgegnete Dawn. »Sich Sorgen zu machen ist ganz normal. Denk einfach nur daran, dass du es am Freitagnachmittag hinter dir hast. Und am Freitag habe ich Nachtschicht, ich werde hier sein und mich um dich kümmern. Du wirst in deinem Bett liegen und Musik hören und dich fragen, warum du dir nur solche Sorgen gemacht hast.« Sie beugte sich vor, um ihm in die Augen zu sehen. »Okay?«
»Ja. Okay.«
Als sie ging, sah er ein kleines bisschen glücklicher aus, wie er da auf seinem Handy herumtippte.
Als Nächste kam Danielle Jones an die Reihe.
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