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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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es halb erwartet hatte.
    Was sie tat: sie wartete ein paar Sekunden, wie um zu sehen, ob er vorhatte, sie anzusprechen. Als er dies nicht tat, machte sie sich wieder an ihr seltsames Mahl, ohne jedoch die Augen von seinem Gesicht abzuwenden. Das Seltsamste war, dass es schien, als strömten die Schmetterlinge bereitwillig wie durch einen Trichter aus der jetzt sonnenhellen Luft nach unten auf ihre ausgestreckte Hand und in den sicheren Tod. Sie ergriff sie an den Flügelspitzen, warf den Kopf zurück und holte sie mit der Spitze ihrer schmalen Zunge in den Mund. Einmal ließ sie ihren Mund geöffnet, die dunklen Lippen teilten sich herausfordernd, und Mirza Said zitterte, als er sah, wie ein Schmetterling in der dunklen Höhle seines Todes umherflatterte, ohne dass er zu fliehen versuchte. Als sie überzeugt war, dass er dies gesehen hatte, schloss sie den Mund und begann zu kauen. So blieben sie an ihrem Platz, die Bäuerin unten, der Grundbesitzer oben, bis sie urplötzlich die Augen verdrehte und heftig zuckend mit voller Wucht auf die linke Seite fiel.
    Nach ein paar Sekunden starren Entsetzens rief der Mirza:
    »Ohé, Haus! Ohé, aufwachen, zu Hilfe!« Im selben Moment schon lief er auf die prächtige englische Treppe aus Mahagoniholz zu, die aus einer unvorstellbaren Gegend namens Warwickshire stammte, irgendeinem unwirklichen Ort, wo in einer feuchten und lichtlosen Priorei König Charles I ebendiese Stufen erklommen hat te, bevor er seinen Kopf verlor - im siebzehnten Jahrhundert einer anderen Zeitrechnung. Und diese Stufen hinunter eilte jetzt Mirza Said Akhtar, der letzte seines Geschlechts, und trampelte über die geisterhaften Abdrücke von enthaupteten Füßen, auf dem Weg in den Garten.
    Das Mädchen wand sich in Krämpfen, zerquetschte Schmetterlinge unter ihrem hin und her rollenden Leib, schlug mit Armen und Beinen um sich. Mirza Said gelangte als erster bei ihr an, obgleich die Diener und Mishal, von seinen Schreien geweckt, gleich hinterherkamen. Er packte das Mädchen, zwang ihre Kiefer auseinander und schob einen herumliegenden Zweig dazwischen, den sie sofort entzweibiss .
    Blut tröpfelte aus ihrem Mund, und er fürchtete um ihre Zunge, aber genau in diesem Moment zog sich die Krankheit zurück, sie wurde ruhig und schlief ein. Mishal ließ sie in ihr eigenes Schlafzimmer bringen, und nun musste Mirza Said eine zweite schlafende Schönheit in diesem Bett betrachten und war zum zweiten Mal erfüllt von einer Empfindung, die ihm zu köstlich und zu tief erschien, um sie mit dem derben Wort Lust zu benennen. Er stellte fest, dass er zwar angewidert war von seinen unreinen Absichten, zugleich aber auch beglückt über die Gefühle, die ihn bedrängten, frische Gefühle, die ihn in ihrer Neuartigkeit überaus erregten. Dann trat Mishal neben ihren Gatten. »Kennst du sie?« fragte Said, und sie nickte. »Ein Waisenmädchen. Sie stellt kleine Emaille-Tiere her und verkauft sie an der Fernstraße. Sie hatte die Fallsucht schon als ein kleines Kind.« Mirza Said war, nicht zum ersten Mal ergriffen von der Gabe seiner Frau, alles über andere Menschen zu wissen. Er selbst konnte kaum ein Dutzend der Dorfbewohner auseinanderhalten, aber sie kannte die Kosenamen, Familiengeschichte und Einkommensverhältnisse jedes Einzelnen. Die Leute erzählten ihr sogar ihre Träume, obgleich nur wenige von ihnen öfter als einmal im Monat träumten, denn sie waren zu arm, um sich solchen Luxus leisten zu können. Die überströmende Liebe, die er im Morgengrauen verspürt hatte, kehrte zurück, und er legte einen Arm um ihre Schultern. Sie lehnte den Kopf an ihn und sagte leise: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.« Er küsste sie aufs Haar. So standen sie da, einander umarmend, und betrachteten das schlafende Mädchen. Aischa: seine Frau nannte ihm ihren Namen.
     
    Als das Waisenmädchen Aischa in die Pubertät gekommen und aufgrund ihrer geistesabwesenden Schönheit und ihrer Art, in eine andere Welt zu starren, der Wunschtraum vieler junger Männer geworden war, begannen die Leute zu sagen, sie halte wohl Ausschau nach einem himmlischen Liebhaber, weil ihr die Sterblichen alle nicht gut genug waren. Ihre abgewiesenen Verehrer beschwerten sich, sie habe - richtig besehen - gar keinen Grund, so wählerisch zu sein, zum ersten, weil sie eine Waise, und zum zweiten, weil sie vom Dämon der Epilepsie besessen war, der gewiss jedes himmlische Wesen abschrecken würde, das ansonsten vielleicht Interesse für sie

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