Die Satanischen Verse
gezeigt hätte. Einige enttäuschte junge Männer gingen soweit zu behaupten Aischas Makel würde ohnehin verhindern, dass sie jemals einen Ehemann fand, also könne sie sich genausogut Liebhaber zulegen, damit diese Schönheit nicht vergeudet wäre, die gerechterweise einem weniger schwierigem Menschenkind zugestanden hätte. Doch trotz aller Versuche der jungen Männer von Titlipur, sie zu einer Hure zu machen, blieb Aischa keusch; was sie schützte, war ihr Blick, den sie stets mit äußerster Konzentration auf das Stückchen Luft direkt über der linken Schu lter ihres Gegenübers gerichtet hielt, und der regelmäßig als Ausdruck von Verachtung missdeutet wurde. Dann wurde bekannt, dass sie neuerdings Schmetterlinge verspeiste, und die Leute revidierten ihre Meinung über sie, waren sie doch jetzt überzeugt davon, dass Aischa nicht ganz bei Trost sei, und wer hätte da noch bei ihr liegen und riskieren wollen, dass die Dämonen auf ihn überwechselten? Also ließen die lüsternen Männer des Dorfes sie allein in ihrer Hütte, allein mit ihren Spielzeugtieren und ihrer seltsamen, flatternden Kost. Ein junger Mann jedoch machte es sich zur Gewohnheit, ein paar Schritte neben ihrer Tür zu sitzen, mit diskret abgewandtem Gesicht, als würde er Wache halten, obgleich sie keinen Beschützer mehr brauchte. Es war ein ehemals Unberührbarer aus dem Nachbardorf Chatnapatna, der zum Islam übergetreten war und den Namen Osman angenommen hatte. Aischa nahm Osmans Gegenwart nie zur Kenntnis, noch bat er sie darum. Die blattreichen Äste des Dorfes wiegten sich im Wind über ihren Köpfen.
Das Dorf Titlipur lag im Schatten eines riesigen Banyanbaumes, eines Alleinherrschers, der mit seinen zahlreichen Wurzeln über ein Gebiet von mehr als einer halben Meile Durchmesser regierte. Mittlerweile war der Baum so tief ins Dorf hinein und das Dorf so tief in den Baum hineingewachsen, dass es unmöglich war, zwischen den beiden zu unterscheiden.
Bestimmte Gegenden des Baumes dienten als Liebesnester, in anderen fanden die Hühner ihren Auslauf. Einige der ärmeren Landarbeiter hatten sich in den Verzweigungen dicker Äste Behelfsunterkünfte gebaut und wohnten mitten im Blätterwerk.
Es gab Äste, auf denen man durchs Dorf gehen konnte, aus den Grannen des alten Baums wurden Kinderschaukeln, und an den Stellen, wo der Baum sich weit hinab zur Erde beugte, bildeten seine Blätter das Dach für so manche Hütte, die im grünen Laub zu hängen schien wie das Nest eines Webervogels. Wenn sich der Dorf-Panchayat versammelte, saß er auf dem mächtigsten Ast. Im Laufe der Zeit hatten die Dorfbewohner es sich angewöhnt, den Namen des Dorfes zu verwenden, wenn sie vom Baum sprachen, und das Dorf einfach »den Baum« z u nennen. Den nichtmenschlichen Bewohnern des Banyan - Honi gameisen, Eichhörnchen, Eulen - wurde der gleiche Respekt gewährt, der auch jedem Mitbürger zustand. Nur die Schmetterlinge wurden ignoriert, wie Hoffnungen, die sich längst als falsch erwiesen hatten.
Es war ein moslemisches Dorf, und aus diesem Grund war der Konvertit Osman hierhergekommen, samt Clownskostüm und seinem »Bum-Bum«-Ochsen, nachdem er aus schierer Verzweiflung den Glauben angenommen hatte; hoffte er doch, dass der Wechsel zu einem moslemischen Namen sich günstiger erweisen würde als frühere Namensänderungen, wie zum Beispiel die Umbenennung der Unberührbaren in »Kinder Gottes«. Als einem Kind Gottes war es ihm in Chatnapatna nicht gestattet gewesen, Wasser aus dem Dorfbrunnen zu schöpfen, weil die Berührung eines Kastenlosen das Trinkwasser verunreinigt hätte… Landlos und verwaist wie Aischa, verdiente sich Osman seinen Lebensunterhalt als Clown. Sein Ochse trug hellrote Papiertüten über den Hörnern und viel Glitzerschmuck auf Nase und Rücken. Osman zog von Dorf zu Dorf, trat bei Hochzeiten und anderen Festlichkeiten auf und führte seine Clownsnummer vor, bei der ihm der Ochse als Spielpartner und Gegenüber diente, indem er Osmans Fragen mit Kopfnicken beantwortete, einmal für Nein, zweimal für Ja.
»Ist das nicht ein hübsches Dorf, in das wir da gekommen sind?« fragte Osman etwa.
Bum, widersprach der Ochse.
»Was? Ich finde doch. Sieh dich mal um: sind das nicht rechtschaffene Leute?«
Bum.
»Was? Ist es etwa ein Dorf voller Sünder?«
Bum, Bum.
»Baapuré! Dann werden wohl alle in die Hölle kommen?«
Bum, Bum.
»Aber, Bhaijan. Gibt es denn irgendwelche Hoffnungen für sie?«
Bum, Bum, offerierte der Ochse
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