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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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alle Speisen irgendwie gleich zu schmecken begannen, und gelegentlich ertappte er sich dabei, wie er geistesabwesend an seinem Laken oder an alten Zeitungen herumknabberte, und erschrocken kam er dann zu sich, schuldbewusst und beschämt ob dieses neuerlichen Beweises seiner Entfernung vom Menschlichen hin zu - jawohl - zum Ziegenhaften. Immer größere Mengen Mundwasser waren vonnöten, um seinen Atem auf einem erträglichen Niveau zu stabilisieren. Es war wirklich nicht auszuhalten.
    Seine Anwesenheit im Haus war ein ständiger Stachel im Fleisch der Hind, in der sich Bedauern über den entgangenen Profit mit den Überbleibseln ihres anfänglichen Schreckens vermengten, obwohl gesagt werden muss , dass der wohltuende Prozess der Gewöhnung sie bereits in seinen Bann gezogen hatte, ihr geholfen hatte, Saladins Zustand als eine Art Elefantenmensch-Krankheit zu betrachten, als etwas Abstoßendes, aber nicht unbedingt Beängstigendes. »Wenn er mir aus dem Weg geht, dann gehe ich ihm auch aus dem Weg«, sagte sie zu ihren Töchtern. »Und ihr, Kinder meiner Verzweiflung, warum verbringt ihr eure Zeit dort oben bei einem Kranken, während eure Jugend vorüberfliegt, wer weiß es schon, aber in diesem Vilaye t scheint alles, was ich einmal wusste , eine Lüge zu sein, zum Beispiel die Vorstellung, dass junge Mädchen ihren Müttern helfen, ans Heiraten denken, fleißig lernen und nicht bei Ziegen herumsitzen sollen, denen wir am Großen Id die Kehle durchschneiden, wie es unser Brauch ist.«
    Ihr Mann blieb indes besorgt, selbst nach dem merkwürdigen Vorfall, der sich ereignete, als er zur Dachkammer hinaufstieg und Saladin zu bedenken gab, dass sich die Mädchen womöglich doch nicht geirrt hätten, dass äh, wie sollte er es ausdrücken, die Besessenheit seines Körpers vielleicht durch Fürsprache eines Mullahs geheilt werden könne. Kaum war die Rede auf einen Geistlichen gekommen, baute Chamcha sich auf seinen Füßen auf, hob beide Arme hoch über den Kopf, und irgendwie füllte sich der Raum mit dichtem, schwefligen Rauch, während ein hohes, vibrierendes, durchdringendes Gekreisch wie ein Stachel an Sufyans Trommelfell kratzte. Der Rauch verzog sich rasch, weil Chamcha ein Fenster aufstieß und fieberhaft die Schwaden zu vertreiben suchte, während er sich überaus verlegen bei Sufyan entschuldigte. »Ich weiß wirklich nicht, was über mich gekommen ist, aber manchmal habe ich Angst, dass ich mich in etwas verwandle, was die Bezeichnung böse verdient.«
    Sufyan, liebenswürdiger Bursche, der er war, ging zu Chamcha, der seine Hörner umklammerte, klopfte ihm auf die Schulter und versuchte, ihn so gut er konnte zu trösten.
    »Problem der Wandlungsfähigkeit des Subjekts«, begann er unbeholfen, »ist schon lange Gegenstand tiefschürfender Debatten. Der Große Lukrez beispielsweise sagt in De Rerum Natura das Folgende: quodcumque suis mutatum finibus exit, continuo hoc mors est illius quod fuit ante. Übersetzt heißt das, entschuldigen Sie meine wenig elegante Formulierung: ›Was, indem es sich verwandelt, seine Grenzen überschreitet, das heißt, über seine Ufer tritt, oder vielleicht seine Schranken überwindet, gewissermaßen seine eigenen Gesetze missachtet , aber das ist wohl zu frei, ich überlege gerade… ›Dieses Ding‹, so jedenfalls Lukrez, ›bringt dadurch seinem ursprünglichen Wesen den sofortigen Tod‹. Abe r«, und der Zeigefinger des Ex— Lehrers ging in die Höhe, »der Dichter Ovid vertritt in den Metamorphosen eine diametral entgegengesetzte Ansicht. Er behauptet: ›So wie weiches Wachs‹ - erhitzt etwa für das Versiegeln von Dokumenten od er dergleichen, verstehen Sie - ›mit neuen Mustern versehen wird und seine Form verändert und nicht mehr dasselbe zu sein scheint, so bleibt es doch dasselbe, und das gilt ebenso für unsere Seelen.‹ - Hören Sie?
    Unsere Seelen! Unser unsterbliches Wesen! - ›Sie bleiben dieselben, nehmen auf ihrer Wanderschaft aber stets neue Formen an.‹«
    Vor Begeisterung über die alten Worte hüpfte er jetzt von einem Bein aufs andere. »Für mich kommt Ovid immer vor Lukrez«, erklärte er. »Ihre Seele, mein lieber armer Freund, bleibt dieselbe. Nur auf ihrer Wanderschaft hat sie zur Zeit diese Form angenommen.«
    »Ein ziemlich schwacher Trost.« Chamcha gelang es, eine Spur seiner alten Trockenheit aufzubringen. »Entweder ich akzeptiere Lukrez und ziehe den Schluss , dass in meinem Innersten eine teuflische und irreversible Mutation

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