Die Satanischen Verse
er auch angenommen haben mochte. Und ebendieser Name lag Gibril auf der Zunge, so wie er das Gesicht des Widersachers, gehörnt und boshaft, noch immer nicht klar erkennen konnte… Na ja, es würde schon bald an Kontur gewinnen, und der Name würde ihm wieder einfallen. Dessen war sich Gibril sicher. Wuchsen seine Kräfte denn nicht mit jedem Tag, war er nicht derjenige, der, wieder zu Ruhm gekommen, den Widersacher abermals in die Dunkelsten Tiefen stürzen würde? Dieser Name, wie war er gleich noch? Tsch… und weiter? Tschu Tsche Tschin Tschow.
Egal. Alles zu seiner Zeit.
Die Stadt in ihrer Korrumpiertheit mochte sich der Herrschaft der Kartographen indes nicht unterwerfen, veränderte ihre Form nach Lust und Laune und ohne Vorankündigung und verhinderte, dass Gibril sich in der systematischen Weise, die er bevorzugt hätte, an die Arbeit machen konnte. An manchen Tagen geschah es, dass er am Ende einer imposanten Kolonnade aus Menschenfleisch und Haut, die sofort blutete, wenn man an ihr kratzte, um die Ecke bog und sich auf einem nicht verzeichneten Ödland wiederfand, an dessen fernem Rand er hohe, bekannte Bauwerke sah, die Wrensche Kathedrale oder die lange, metallische Zündkerze des Fernsehturms, die im Wind abbröckelten wie Sandburgen. Er stolperte durch irreführende und unbekannte Parks, um auf den belebten Straßen des Westends zu landen, auf die, zur Bestürzung der Autofahrer, Säure vom Himmel regnete, die große Löcher in die Asphaltdecke brannte. In diesem Pandämonium von Trugbilder n vernahm er oft Gelächter: die Stadt machte sich lustig über seine Ohnmacht, wartete auf seine Kapitulation, auf sein Eingeständnis, nicht zu verstehen, was hier existierte, geschweige denn, es verändern zu können.
Er verfluchte seinen noch immer gesichtslosen Widersacher, flehte Gott um ein weiteres Zeichen an, befürchtete, dass seine Kräfte in Wahrheit der Aufgabe nicht gewachsen waren. Kurz, er wurde zum bedauernswertesten und heruntergekommensten Erzengel, seine Kleidung verdreckt, sein Haar strähnig und fettig, an seinem Kinn sprossen Haare in widerspenstigen Büscheln. In dieser jämmerlichen Verfassung traf er am U-Bahnhof Angel ein.
Es muss frühmorgens gewesen sein, denn das Bahnhofspersonal schloss gerade das nächtliche Eisengatter auf und schob es zurück. Er folgte ihnen hinein, schlurfend, den Kopf gesenkt, die Hände tief in den Taschen (der Stadtplan war schon lange ausrangiert), und als er schließlich aufblickte, sah er in ein Gesicht, das kurz davor war, in Tränen auszubrechen.
»Guten Morgen«, wagte er sich vor, und die junge Frau hinter dem Fahrkartenschalter antwortete bitter: »Was soll daran schon gut sein, möchte ich wissen«, und jetzt kamen ihr die Tränen, dick, kugelrund und reichlich. »Na, na, mein Kind«, sagte er, und sie sah ihn ungläubig an. »Sie sind kein Priester«, hielt sie dafür. Er entgegnete, ein wenig zaghaft: »Ich bin Gibril, der Engel.« So abrupt, wie sie in Tränen ausgebrochen war, fing sie jetzt zu lachen an. »Die einzigen Engel, die es hier gibt, hängen zu Weihnachten an den Straßenlaternen.
Lichterschmuck. Die Stadtverwaltung lässt sie dort herumbaumeln.« Er ließ sich nicht entmutigen. »Ich bin Gibril«, wiederholte er, während er sie fixierte.
»Sprich!« Und zu ihrer eigenen, emphatisch ausgedrückten Verwunderung - Nich zu fassen, dass ich einem Penner mein Herz ausschütte, is sonst nich meine Art, ey - begann die Fahrkartenverkäuferin zu sprechen.
Sie hieß Orphia Phillips, war zwanzig Jahre alt, beide Eltern lebten noch und waren abhängig von ihr, besonders jetzt, da ihre törichte Schwester Hyacinth ihren Job als Krankengymnastin verloren h atte, weil sie sich auf »dummes Zeug« eingelassen hatte. Der junge Mann, denn natürlich gab es einen jungen Mann, hieß Uriah Moseley. Im U-Bahnhof waren kürzlich zwei funkelnagelneue Aufzüge installiert worden, und Orphia und Uriah waren die Fahrstuhlführer. Während des Berufsverkehrs, wenn beide Aufzüge in Betrieb waren, hatten sie kaum Zeit füreinander; aber für den Rest des Tages fuhr nur ein Aufzug. Orphia bezog Posten an der Sperre, gegenüber dem Liftschacht, und Uri schaffte es, eine Menge Zeit dort unten bei ihr zu verbringen, an die Tür seines blitzenden Aufzugs gelehnt und mit dem silbernen Zahnstocher, den sein Urgroßva ter bei irgendeinem Plantagenboss abgestaubt hatte, in den Zähnen stochernd. Es war die wahre Liebe. »Es hat mich einfach erwischt«, klagte
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