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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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bist ja völlig außer dir. Ich finde, du siehst wirklich schlecht aus. O Bringerin von Drangsal, Schöpferin von Zwist, von Herzeleid!
    Sirene, Versucherin, Satan in menschlicher Gestalt! Dieser schneeweiße Körper mit seinem hellen hellen Haar: wie hatte sie ihn benutzt, um seine Seele zu vernebeln, und wie schwer war es ihm gefallen, angesichts der Schwäche seines Fleisches, zu widerstehen… verstrickt von ihr im Netz einer Liebe, die so kompliziert war, dass sie sich jedem Verständnis entzog, hatte er am Rande des Sündenfalls gestanden. Wie großherzig war das Höchste Wesen doch zu ihm gewesen!
    Jetzt erkannte er, dass er vor einer einfachen Wahl stand: die teuflische Liebe der Menschentöchter oder die himmlische Gottesverehrung. Er hatte, im allerletzten Augenblick, zu der Möglichkeit gefunden, sich für letzteres zu entscheiden.
    Aus der rechten Manteltasche zog er das Buch, das dort steckte, seit er vor einem Jahrtausend Rosas Haus verlassen hatte: das Buch der Stadt, die zu retten er gekommen war, das Große London, Hauptstadt von Vilayet, für ihn aufgezeichnet, bis ins kleinste Detail, einfach alles. Er würde diese Stadt erlöschen: Geographer’s London, von A bis Z.
     
    An einer Straßenecke in einem Viertel, das einst bekannt war für seine Künstler, Radikalen und für Männer auf der Suche nach Prostituierten und jetzt von Werbeleuten und kleinen Filmproduzenten in Beschlag genommen war, stieß der Erzengel Gibril zufällig auf eine verlorene Seele. Sie war jung, männlich, groß und von außerordentlicher Schönheit, mit einer auffälligen Adlernase und langem, schwarzem, pomadisierten Haar, das in der Mitte gescheitelt war; ihre Zähne waren aus Gold. Die verlorene Seele stand am Rand des Bürgersteigs, mit dem Rücken zur Straße, leicht vorgebeugt, und umklammerte mit der rechten Hand etwas, an dem ihr offenbar viel lag. Ihr Verhalten war auffällig: zuerst starrte sie wild auf das Ding in ihrer Hand, dann sah sie sich um, wandte den Kopf von rechts nach links, blickte den Passanten prüfend und mit lodernder Konzentration ins Gesicht. Gibril, der nicht zu schnell nähertreten wollte, sah, als er d as erste Mal an ihr vorbeiging, dass der Gegenstand, den die verlorene Seele festhielt, ein kleines Passfoto war. Bei seinem zweiten Annäherungsversuch steuerte er direkt auf den Unbekannten zu und bot seine Hilfe an. Der andere musterte ihn misstrauisch , hielt ihm dann das Foto unter die Nase. »Dieser Mann« sagte er und tippte mit einem langen Zeigefinger auf das Foto, »kennen Sie diesen Mann?«
    Als Gibril erkannte, dass ein junger Mann von außerordentlicher Schönheit, mit einer auffälligen Adlernase und langen, schwarzen, pomadisiertem Haar, das in der Mitte gescheitelt war, aus dem Foto herausstarrte, wusste er, dass sein Instinkt ihn nicht betrogen hatte, dass hier, an einer belebten Straßenecke, eine Seele stand, auf der Suche nach ihrem abhandengekommenen Körper, die Menge beobachtete für den Fall, dass sie selbst vorüberkäme, ein Geist, der dringend seiner verlorenen körperlichen Hülle bedurfte - denn Erzengel wissen, dass die Seele oder das Ka nicht länger als eine Nacht und einen Tag leben kann, wenn die goldene Lichtschnur, die sie mit dem Körper verbindet, durchtrennt ist.
    »Ich kann dir helfen«, versprach er, und die junge Seele sah ihn ungläubig an. Gibril beugte sich vor, nahm das Gesicht des Ka zwischen seine Hände und küsste es fest auf den Mund, denn ein Geist, der von einem Erzengel geküsst wird, erhält sofort seinen verlorengegangenen Orientierungssinn zurück und wird auf den wahren, rechten Pfad geführt. Die verlorene Seele reagierte jedoch in einer sehr überraschenden Weise auf die Gunst des erzenglischen Kusses. »Scheiße!« rief sie, »kann ja sein, dass ich auf dem Schlauch stehe, Alter, aber so nun auch wieder nicht!« und dann schlug sie, mit einer für einen körperlosen Geist höchst ungewöhnlichen Kraft, dem Erzengel des Herrn geräuschvoll auf die Nase, mit bebender Faust, die ihr Foto umklammerte; mit verwirrenden und blutigen Folgen.
    Als er wieder klar sehen konnte, war die verlorene Seele verschwunden, aber dort, auf einem fliegenden Teppich, etwa einen Meter über dem Boden, saß Rekha Merchant und verspottete ihn ob seines Missgeschicks . »Kein besonders toller Anfang«, schnaubte sie veräch tlich. »Erzengel, dass ich nicht lache! Gibril Janab, du bist übergeschnappt, glaub mir. Du hast zu viele geflügelte Typen gespielt,

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