Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
spekulieren. Ist es wirklich sein Schweigen auf Rosas Treppe, kann es das sein? Oder gibt es da noch tiefer sitzende Ressentiments, Meckereien, für die diese sogenannte Erste Ursache in Wirklichkeit nichts weiter als ein Ersatz, Fassade ist? Denn sind sie nicht verbundene Gegensätze, die beiden, jeder des anderen Schatten? Der eine strebt danach, in das Fremdartige verwandelt zu werden, das er so bewundert, der andere zieht es, voller Verachtung, vor, selbst zu verwandeln; der eine ein vom Pech Verfolgter, der anscheinend ständig für nicht begangene Verbrechen bestraft wird, der andere, von allen engelsgleich genannt, einer von denen, die sich alles leisten können. Wir können Chamcha als etwas kleiner als lebensgroß bezeichnen; der laute, vulgäre Gibril dagegen ist fraglos um ein Beträchtliches überlebensgroß, eine Ungleichheit, die in Chamcha leicht neo-prokrustische Lüste wecken könnte: sich selbst zu strecken, indem er Farishta zurechtstutzt.
    Was ist unverzeihlich?
    Was, wenn nicht die zitternde Nacktheit, einem Menschen, dem man nicht traut, gänzlich bekan nt zu sein? Und hat Gibril Saladin nicht in Umständen gesehen - Entführung, Sturz, Verhaftung -, in welchen die innersten Geheimn isse bis zum äußersten entblößt waren?
    Gut denn. Kommen wir der Sache näher? Sollten wir sogar sagen, dass die beiden zwei fundamental verschiedene Arten des Ichs sind? Könnten wir uns nicht darauf einigen, dass Gibril, Künstlername hin und Auftritte her, trotz Wiedergeburtssprüchen, neuer Anfänge, Metamorphosen sich gewünscht hat, in hohem Maße eine kontinuierliche Größe zu bleiben, das heißt, seiner Vergangenheit verbunden und aus ihr sich fortentwickelnd; dass er weder fast-tödliche Krankheit noch verwandelnden Sturz wählte, dass er tatsächlich vor allem anderen die geänderten Zustände fürchtet, in die seine Träume sickern und die sein waches Ich überwältigen, ihn zu dem engelsgleichen Gibril machen, der er nicht sein will, so dass sein Ich noch immer eines ist, das wir, für unsere gegenwärtigen Zwecke, als »wahr« bezeichnen können… während Saladin Chamcha ein Wesen der selektierten Diskontinuitäten ist, eine willige Neuerfindung; seine gewollte Revolte gegen die Geschichte das ist, was ihn, gemäß unserer Redewendung, »falsch« macht? Und könnten wir dann nicht einen Schritt weitergehen und sagen, dass ebendiese Falschheit des Ichs bei Chamcha eine schlimmere und tiefere Falschheit ermöglicht - nennen wir es das »Böse« - und dass dies die Wahrheit, die Tür ist, die durch seinen Sturz in ihm geöffnet wurde? Während Gibril, der Logik unserer eingeführten Terminolog ie zufolge, als »gut« betrachtet werden muss , vermöge seines Wunsches, bei all seinen Wandlungen ein im Grunde ungewandelter Mann zu bleiben.
    Aber, und abermals aber: Das klingt doch gefährlich nach einem vorsätzlichen Trugschluss , oder? Solcherlei Unterscheidungen, die notwendig auf der Vorstellung des Ichs als (idealerweise) homogen, nicht-hybrid, »rein« - eine absolut phantastische Vorstellung! - beruhen, können, dürfen nicht genügen. Nein! Sagen wir etwas noch Härteres: dass das Böse vielleicht doch nicht so tief unte r unserer Oberfläche liegt, wie wir es gern hätten. Dass wir ihm auf natürliche Weise, das heißt, nicht gegen unsere Natur, anheimfallen. Und dass Saladin Chamcha loszog, Farishta zu zerstören, weil es sich letztlich als so leicht erwies; denn der wahre Reiz des Bösen ist die verführerische Leichtigkeit, mit der man sich auf diesen Weg begeben kann. (Und, fügen wir schlussendlich hinzu, die spätere Unmöglichkeit der Umkehr.)
    Saladin Chamcha allerdings besteht auf einem schlichteren Argument. »Es war sein Verrat in Rosa Diamonds Haus, sein Schweigen; sonst nichts.«
    Er setzt den Fuß auf die falsche London Bridge. Von einer nahen rot-weiß gestreiften Puppenspielerbude ruft ihm Mr. Punch - Judy prügelnd - zu: Genau so wird’s gemacht! Darauf spricht auch Gibril einen Gruß, wobei die Begeisterung der Worte durch die unpassende Lustlosigkeit der Stimme zunichte gemacht wird: »Du hier, Spoono. Du verdammter Hund. Da bist du ja, in voller Lebensgröße. Komm her, du Salad Baba, alter Chumch.«
     
    Folgendes geschah:
    In dem Moment, als Saladin Chamcha Allie Cone nahe genug war, um von ihren Augen durchbohrt zu werden und etwas zu frösteln, spürte er, wie seine neu erwachte Feindseligkeit gegenüber Gibril sich auf sie ausdehnte, sie mit ihrem

Weitere Kostenlose Bücher