Die Satanischen Verse
Reisen dorthin als mit Gefahren beladen: denn eine Panne in solcher Einöde würde sicher einen einsamen und unentdeckten Tod bedeuten. Er hatte argwöhnisch bemerkt, dass ein Scheinwerfer des Citroen defekt war, dass die Tankuhr auf Rot stand (sie erwies sich dann ebenfalls als defekt), das Tageslicht nachließ, und Allie fuhr, als wäre die A 74 der Rundkurs von Silverstone an einem sonnigen Tag. »Ohne Auto kommt er nicht weit, aber man weiß ja nie«, erklärte sie düster. »Vor drei Tagen stahl er die Wagenschlüssel, und dann erwischten sie ihn, wie er eine Ausfahrt der M 6 in verkehrter Richtung hochfuhr und irgendwas von Verdammnis brüllte. Bereitet euch auf die Rache des Herrn vor, sagte er zu den Autobahnbullen, denn bald rufe ich meinen Statthalter Asrael herbei. Sie notierten alles in ihre kleinen Bücher.« Chamcha, dessen Herz noch immer voll eigener Rachegelüst e war, schützte Anteilnahme und Entsetzen vor. »Und Jumpy?« erkundigte er sich. Allie nahm beide Hände vom Lenkrad und breitete sie in einer Ich— geb’s auf -Geste aus, während der Wagen auf haarsträubende Weise über die kurvige Straße schlingerte. »Die Ärzte meinen, die besitzgierige Eifersucht könnte Teil derselben Sache sein; zumindest kann sie die Geisteskrankheit auslösen, wie eine Lunte.«
Sie war froh, endlich einmal reden zu können, und Chamcha lieh ihr ein williges Ohr. Wenn sie ihm vertraute, dann auch, weil Gibril es tat; er hatte nicht die Absicht, das Vertrauen zu zerstören. Einmal hat er mein Vertrauen missbraucht ; soll er jetzt eine Zeitlang Vertrauen in mich haben. Er war als Puppenspieler Anfänger; es war nötig, die Schnüre zu studieren, herauszufinden, was womit verbunden war… »Ich kann’s nicht ändern«, sagte Allie. »Ich fühle mich wegen ihm auf eine dumpfe Art schuldig. Unser Leben funktioniert nicht, und das liegt an mir. Meine Mutter wird sauer, wenn ich so rede.« Alicja schimpfte mit ihrer Tochter am Terminal Three, kurz bevor sie in die Maschine gen Westen stieg: »Ich verstehe nicht, wie du auf so etwas kommst«, schrie sie inmit ten von Rucksackträgern, Attaché koffern und weinenden asiatischen Mamis. »Dann kannst du genausogut sagen, dass das Leben deines Vaters auch nicht nach Plan gelaufen ist. Soll man ihm deswegen die Schuld an den Lagern geben? Schau dir die Geschichte an, Alleluja . In unserem Jahrhundert hat die Geschichte aufgehört, die alte psychologische Orientierung an der Realität zu beachten. Heutzutage ist Charakter keine Fügung mehr. Die Wirtschaft ist Fügung. Ideologien sind Fügung. Bomben sind Fügung. Was kümmert es eine Hungersnot, eine Gaskammer, eine Granate, wie du dein Leben gelebt hast? Krisen kommen, der Tod kommt, und dein erbärmliches individuelles Ich hat nicht das geringste damit zu tun, es leidet nur an den Auswirkungen. Dein Gibril da: vielleicht ist er deine Konfrontation mit der Geschichte.« Ohne Vorwarnung war sie zu dem Garderobenstil der Grande Dame zurückgekehrt, den Otto Cone bevorzugt hatte, und, so schien es, zu einer oratorischen Art, die den großen schwarzen Hüten und Rüschenkostümen entsprach. »Genieß Kalifornien, Mutter«, zischte Allie. »Eine von uns ist glücklich«, sagte Alicja.
»Warum sollte das nicht ich sein?« Und bevor ihre Tochter antworten konnte, schoss sie an der Nur-für-Passagiere-Absperrung vorbei, zückte Pass , Bordkarte, Flugschein, strebte den Duty-free-Flaschen Opium und Gordon’s Gin entgegen, die unter einer Leuchtreklame verkauft wurden, welche verkündete: SAY HELLO TO THE GOOD BUYS.
Im letzten Licht umrundete die Straße einen baumlosen, heidebewachsenen Hügelausläufer. Vor langer Zeit, in einem anderen Land, einer anderen Dämmerung hatte Chamcha einen anderen derartigen Ausläufer umrundet und die Überreste von Persepolis gewahrt. Jetzt allerdings näherte er sich einer menschlichen Ruine; nicht, um zu bewundern, vielleicht aber (denn die Entscheidung, Böses zu tun, wird stets erst im unmittelbaren Augenblick der Tat gefällt; es gibt immer noch eine letzte Chance zur Umkehr), um zu verwüsten. Um seinen Namen in Gibrils Fleisch zu ritzen: Saladin was here.
»Warum bleiben Sie bei ihm?« fragte er Allie, und zu seiner Verblüffung errötete sie. »Warum ersparen Sie sich nicht den Schmerz?«
»Ich kenne Sie ja kaum, eigentlich überhaupt nicht«, fing sie an, machte eine Pause und gab sich einen Ruck. »Ich bin auf die Antwort nicht stolz, aber es ist die Wahrheit«, sagte sie. »Es ist
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