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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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seinen offenen Mund und befreite ihn.
    Doch sie waren durch die Wolkenmetamorphosen gefallen, Chamcha und Farishta, und es war etwas Fließendes, Unscharfes an ihren Rändern, und als das Sonnenlicht auf Chamcha traf, löste es mehr als einen Schrei aus:
    »Flieg«, schrie Chamcha Gibril zu. »Flieg jetzt.« Und ohne seinen Ursprung zu kennen, fügte er einen zweiten Befehl hinzu: »Und sing.«
    Wie kommt das Neue in die Welt? Wie wird es geboren?
    Aus welchen Verschmelzungen, Verwandlungen, Verbindungen besteht es?
    Wie überlebt es, extrem und gefährlich, wie es ist? Welche Kompromisse muss es eingehen, welche Abmachungen treffen, welchen Verrat an seiner verborgenen Natur üben, um die Abbruchkugel abzuwehren, den Würgeengel, die Guillotine?
    Ist Geburt immer ein Fall?
    Haben Engel Flügel? Können Menschen fliegen?
    Als Mr. Saladin Chamcha aus den Wolken über dem Ärmelkanal fiel, spürte er, wie sein Herz von einer so unerbittlichen Macht ergriffen wurde, dass er die Unmöglichkeit seines Todes erkannte. Nachher, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, begann er zu zweifeln, die Unwahrscheinlichkeiten seines Sturzes auf seine durch die Explosion durcheinandergeratene Wahrnehmung zurückzuführen und sein und Gibrils Überleben einem blinden, dummen Zufall zuzuschreiben. Aber während er fiel, bestand für ihn kein Zweifel; was sich seiner bemächtigt hatte, war der Wille zu leben, unverfälscht, unwiderstehlich, rein, und das erste, was dieser Wille tat, war, ihn davon zu unterrichten, dass er nichts mit seiner erbärmlichen Persönlichkeit zu tun haben wollte, dieser zur Hälfte wiederhergestellten Angelegenheit aus Mimik und Stimmen, er wollte das alles umgehen, und er, Chamcha, merkte, dass er sich ihm unterwarf, ja, mach nur, als ob er in seinen eigenen Gedanken, seinem eigenen Körper ein Zuschauer wäre, denn dieser Wille begann genau im Mittelpunkt seines Leibes und breitete sich nach außen aus, ließ sein Blut zu Eisen werden, verwandelte sein Fleisch in Stahl, doch gleichzeitig fühlte er sich an wie eine Faust, die ihn umfasste und in einer Weise hielt, die sowohl unerträglich fest und als auch unzumutbar sanft war; bis ihn dieser Wille schließlich völlig überwältigt hatte und seinen Mund, seine Finger, was immer er wollte, lenken konnte, und sobald er seiner Herrschaft sicher war, drang er aus Chamchas Körper und packte Gibril Farishta an den Eiern.
    »Flieg«, befahl er Gibril. »Sing.«
    Chamcha hielt sich an Gibril fest, während der andere erst langsam und dann mit zunehmender Geschwindigkeit und Kraft mit den Armen wie mit Flügeln zu schlagen begann. Immer fester schlug er mit den Armen, und währenddessen brach ein Lied aus ihm hervor, und wie das Lied des Geistes von Rekha Merchant ertönte es in einer Sprache, die er nicht kannte, zu einer Melodie, die er nie gehört hatte. Gibril bestritt dieses Wunder nie; anders als Chamcha, der es mit logischen Überlegungen aus der Welt zu schaffen suchte, hörte er nie auf zu behaupten, dass das Ghasel himmlischen Ursprungs war, dass ohne das Lied das Armeschlagen zwecklos gewesen wäre und dass sie ohne das Armeschlagen mit Sicherheit wie ein Stein oder so auf die Wellen geprallt und bei der ersten Berührung mit der straffgespannten Trommel des Meeres in tausend Stücke geborsten wären. Stattdessen jedoch wurden sie allmählich langsamer. Je entschiedener Gibril flatterte und sang, sang und flatterte, desto deutlicher wurde die Verlangsamung, bis die beiden schließlich wie Papierschnitzel im sanften Wind auf den Kanal hinunterschwebten.
    Sie waren die einzigen Überlebenden des Unglücks, die einzigen, die aus der Bostan stürzten und am Leben blieben.
    Man fand sie an einen Strand gespült. Der Redseligere der beiden, der im purpurroten Hemd, schwor in seinen wild ausschweifenden Erzählungen, sie wären auf dem Wasser gewandelt, die Wellen hätten sie sachte ans Ufer getragen; aber der andere, auf dessen Kopf wie durch Zauberei eine aufgeweichte Melone klebte, bestritt das. »Gott im Himmel, wir hatten Glück«, sagte er. » Wie viel Glück kann man haben?«
    Ich kenne die Wahrheit, das liegt auf der Hand. Ich habe alles gesehen. Auf Allgegenwärtigkeit und -mächtigkeit erhebe ich im Augenblick keinen Anspruch, aber so viel lässt sich sagen, hoffe ich: Chamcha wollte es, und Farishta tat das Gewollte.
    Wer wirkte das W under?
    Welcher Art - engelhaft oder satanisch - war Farishtas Lied?
    Wer bin ich?
    Sagen wir es so: Wer

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