Die satten Toten: Ein Fall für Karl Kane (Band 2) (German Edition)
müsste er gründlich über seine Antwort nachdenken.
»Zwischen … zwischen Karl und mir ist etwas vorgefallen. Ich kann keine Einzelheiten erzählen, Lynne. Nicht einmal dir. Dein Exmann geht auf einem schmalen Grat durchs Leben. Mehr muss ich nicht …«
Wilson verstummte unvermittelt. Er hatte nicht bemerkt, dass Chambers mit einem Tablett in der Hand an der Tür stand. Wie lange stand er schon da?
»Stellen Sie das verdammte Tablett auf den Tisch, Mann. Wir haben keine Giraffenhälse!«
»Ja, Sir! Ich habe geklopft, bevor ich eingetreten bin. Entschuldigung.«
Lynne wartete, bis Chambers die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Jetzt hör mir zu, Mark, und hör mir gut zu. Glaubst du allen Ernstes, ich lasse zu, dass irgendein Blödsinn zwischen dir und Karl das Leben meiner Tochter gefährdet?« Lynne warf ihrem Bruder einen Blick zu, der ihm die Hoden zusammenschrumpeln ließ.
»Lynne, du weißt, ich tue, was in meiner Macht steht, um …«
»Nicht. Verschon mich mit deinen Presseerklärungen«, zischte Lynne und stand auf. »Ihr zwei findet Katie – und zwar schnellstens. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Wilson konnte ihr nicht in die Augen sehen.
»Ja«, sagte er schließlich, und sah ihr nach, wie sie zur Tür hinausging. Noch lange danach war ihm, als wäre sie immer noch im Raum.
Kapitel Vierunddreißig
»Die Erinnerung ist der beste Freund und schlimmste Feind des Menschen.«
Gilbert Parker, Romany of the Snows
Karl sah übernächtigt aus und hatte lila Ringe unter den Augen. Seit er vor zehn Minuten Wilsons Büro betreten hatte, plagte ihn ein niederschmetterndes Gefühl von Déjà-vu. Je mehr Zeit verstrich, desto mulmiger wurde ihm, und er fragte sich mehr als einmal, ob seine Ängste berechtigt waren oder lediglich die Ausgeburt seines überlasteten Verstandes. Eines jedenfalls stand fest: Er freute sich nicht auf dieses Zusammentreffen mit seinem Exschwager, und das trotz der guten Nachricht, dass Überwachungskameras Katies letzte Schritte vor ihrem Verschwinden festgehalten hatten.
»Ich wünschte, Mark würde sich beeilen und herkommen«, sagte Lynne, die in dem Zimmer auf und ab ging. »Ich muss diese Aufnahmen sehen.«
»Er kommt, wenn es
ihm
passt. Da kannst du Gift drauf nehmen«, sagte Karl höhnisch. »Vermutlich hat er Wichtigeres zu tun, zum Beispiel frühstücken.«
»Kaum zu glauben, dass ich vor zwei Tagen hier war und ihn angebrüllt habe, dass er nichts tut.«
»Er hat ja seither auch nichts getan, außer, dass er uns warten lässt.«
»Lass das, Karl. Du hast es nicht besser gemacht, indem du ihn nicht gleich informiert hast. Er hätte viel früher aktiv werden können.«
»Schön, dass du so ein Gottvertrauen in deinen Bruder hast. Könnte ich doch nur auch …«
Plötzlich betrat Wilson das Zimmer, nickte Lynne zu und würdigte Karl keines Blickes.
Am Ende blieb es Lynne überlassen, das eisige Schweigen zwischen den beiden zu brechen.
»Hört mal, ich habe keine Ahnung, was da zwischen euch beiden läuft, und es ist mir auch egal«, sagte Lynne und sah von Karl zu Wilson. »Aber ich bitte euch, dass wir uns von jetzt an
alle
auf eine einzige Sache konzentrieren, und nur eine: dass wir Katie wohlbehalten wiederbekommen. Danach könnt ihr euch wieder gegenseitig hassen, bis der Arzt kommt. Einverstanden?«
Karl nickte; Wilson murmelte etwas Unverständliches.
»Mark? Ich habe kein Wort verstanden«, sagte Lynne und warf ihrem Bruder einen ungeduldigen Blick zu.
»Einverstanden«
, antwortete Wilson und sah giftig drein.
»Okay«, fuhr Lynne sichtlich erleichtert fort. »Das ist dein Spezialgebiet, Mark.«
Alle sahen Wilson an, der einen Fernseher auf seinem Schreibtisch einschaltete. Der Bildschirm leuchtete auf.
»Das ist Material von Überwachungskameras, das wir erst vor drei Stunden reinbekommen haben. Es ist manchmal etwas unscharf. Darum komme ich so spät; ich wollte es so klar wie möglich haben.«
Karl spürte, wie er rot wurde.
»Es wurde an dem Tag aufgenommen, als Katie verschwand«, fuhr Wilson fort. »Man sieht, wie sie aus Nick’s Warehouse kommt und dann die Hill Street runter Richtung Talbot Street geht.«
»O Gott, Karl, sieh sie dir an«, sagte Lynne, der plötzlich Tränen in die Augen schossen, mit bebender Stimme.
Karl spürte selbst einen Kloß im Hals, als er sah, wie Katie die Hill Street hinunterging, hastig die Talbot Street überquerte und in Richtung der Saint Anne’s Cathedral abbog. Ihre zierliche Gestalt
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