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Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Titel: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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vorbeikamen. Erst erkannte sie mich nicht. Ihre schwarzen Augen streiften mich und dann die Leiterin des Sanatoriums. Dann kehrten sie zu mir zurück und begannen Funken zu sprühen.
    Aminat warf ihren ganzen Körper gegen die Glasscheibe. Ich sah ihre weißen Zähnchen in einem hoffnungsvollen, platt gedrückten Lächeln. Die Flecken in ihrem Gesicht sah ich erst später.
    Wir betraten den Glaskäfig, und Aminat sprang mich an, umschlang mich mit Armen und Beinen und drückte so fest, dass es mir den Atem verschlug. Ich klopfte ihr auf den Rücken, sagte »Na, na!« und versuchte sie auf den Boden zu stellen.
    »Na?« sagte die Sanatoriumsleiterin triumphierend.
    Ohne ein weiteres Wort setzte sie sich aufs Bett, klemmte sich Aminat zwischen die Beine und hob deren T-Shirt hoch.
    Ich erblickte unzählige kleine rote Pickel, die auf Aminats Rücken zu Sternbildern und Galaxien zusammenliefen. Ich setzte meine Brille auf und beugte mich tiefer darüber. Zu den vielen Sachen, die ich sehr genau wusste, gehörte, dass Scharlach ganz anders aussah.
    »Sie hat nur was Falsches gegessen«, sagte ich. »Das ist doch kein Scharlach.«
    »Haben Sie eine medizinische Fachausbildung?« fragte die Leiterin.
    Sie hatte eine medizinische Fachausbildung, konnte aber Scharlach nicht von Nesselsucht unterschieden. Oder sie wollte es nicht. Ich ahnte es schon. Aminat war kein einfaches Kind, auch hier nicht.
    »Gehen Sie mit dem Kind in die zuständige Poliklinik«, sagte sie.
    »Sie werden noch von uns hören«, sagte ich, als wir davongingen.
    Ich trug Aminats Rucksack. Die Bescheinigung darüber, dass das Kind Kalganowa an einer hochinfektiösen Krankheit litt, vermutlich in Lebensgefahr war und dringend isoliert werden musste, zerriss ich unterwegs und ließ die Fetzen zwischen den Tannen davonflattern.
    Aminat hüpfte an meiner Hand durch den Schnee. Sie lächelte übers ganze Gesicht und fasste in ihren eigenen Worten die drei Sanatoriumswochen zusammen.
    Es war grauenhaft. Sie musste in einem Schlafsaal mit fünfzig anderen Kindern schlafen. Die ersten Tage konnte sie nicht aus diesen Metalltellern essen, weil der Löffel so grässlich dagegenklapperte. Alle Kinder mussten sich vor dem Schlafengehen gemeinsam die Füße waschen. Die Handtücher wurden so gefaltet: längs, längs, noch mal längs, dann quer. Eine der Erzieherinnen erzählte ständig Gruselgeschichten. Aminat wachte fast jeden Morgen in einem fremden Bett neben einem anderen Kind aufund wusste nicht mehr, wie sie dahingekommen war. Sie wollte nie, nie wieder irgendwelche Geschichten hören. Jeden Tag gab es eine Spritze in den Arm, die Nadeln so lang, dass sie den Arm durchstechen konnten. Alle Kinder, die nachts aufs Klo wollten, mussten einen Nachttopf nehmen, der erst am Morgen geleert wurde. Aminat hatte erst vorgestern eine Freundin gefunden, die von ihren Eltern eine Tüte Bonbons bekommen und sie alle mit Aminat geteilt hatte. In der Nacht hatte es dann angefangen zu jucken, und am Morgen wurde Aminat gefragt, ob sie schon Scharlach gehabt habe, der glücklichste Moment der letzten drei Wochen, denn schon kam ich vorbei und holte sie wieder ab!
    Wir erreichten den kleinen verlassenen Bahnhof und setzten uns auf eine Bank. Der Zug, der mein kleines Mädchen und mich aus dem Wald zurück nach Hause bringen sollte, fuhr erst in einer Stunde. Über dem Wald ging die Sonne auf, die ersten blassen Strahlen streiften unsere Wangen. Wir hielten die Gesichter zum Himmel hoch.
    »Aminat, sei still«, bat ich. Ich bekam schon Kopfschmerzen von ihrem Geplapper. Ich hatte in diesen Wochen ganz vergessen, wie viel sie reden konnte.
    »Wir hatten fast jeden Abend Buchweizengrütze«, fuhr Aminat fort.
    »Soll ich dir lieber mal eine Geschichte erzählen?« unterbrach ich sie.
    »Nein!« schrie Aminat.
    Ich habe sie selten so glücklich gesehen wie an diesem Tag. Aber mit Geschichten, so viel stand fest, wollte sie nie wieder etwas zu tun haben.

[Menü]
    Verräter überall
    Zwei Tage später waren die Flecken weg. Aber ich brachte Aminat nicht mehr zurück ins Sanatorium. Sie sah gesund aus. Ich gab ihr zu jedem Essen ein Stück Brot und eine Knoblauchzehe und zeigte ihr, wie sie die Kruste damit einreiben konnte. Aminat ließ das Brot weg und aß die Knoblauchzehen ganz. Ich war sicher, dass sie jetzt nicht mehr krank werden würde: Im Knoblauch waren sehr viele Vitamine. Ich schickte sie wieder in den Kindergarten. Drei Tage später kam ich abends zum Abholen und

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