Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
hörte sie nicht mehr auf damit. Überhaupt nicht. Sie redete Tag und Nacht. Sie sagte sonderbare Sachen.
Ich war ihr ein gutes Vorbild. Ich achtete auf meine Aussprache und darauf, dass mir kein tatarisches Wort durchrutschte. Aminat sollte perfekt sprechen. Sie sah schon tatarisch genug aus. Sie musste nicht auch noch so klingen. Ich hatte ja keine Familie mehr, aber bei Kalganows Verwandten auf dem Land habe ich gesehen, wie sich so etwas entwickeln konnte. Erst sprach man Tatarisch, dann vergaß man das Russische, und plötzlich war man Analphabet. Aminat durfte das nicht passieren. Sie sollte die Beste, Schönste und Klügste sein. Ein sowjetisches Kind ohne Nationalität, sagte Kalganow stolz. Im Grunde wollten wir, in seltener Einigkeit, das Gleiche für unsere Enkelin, auch wenn wir unterschiedliche Gründe dafür hatten.
Nach dem Kindergarten redete ich mit ihr darüber, wie ihr Tag gewesen war, dabei korrigierte ich ihre Grammatik und erweiterte ihren Wortschatz. »Elektrizität, mein Liebling«, sagte ich, wenn sie versuchte, eine Nagelschere in die Steckdose zu stecken. »Kommunismus, mein Liebling«, sagte ich, wenn ich für sie Bananen ergattern konnte, die ich auf der Fensterbank nachreifen ließ und von denen ich ihr jeden Tag eine einzige gab, damit es lange reichte.
»Gravitation, mein Liebling«, sagte ich, wenn sie mal wieder hinfiel, was ziemlich oft passierte, denn in ihren ersten Jahren war sie unglaublich tollpatschig. Aminat konnte lange Zeit rechts und links nicht unterscheiden und nicht auf einem Bein stehen. Sich hübsch imKreise drehen, wie andere kleine Mädchen, konnte sie erst recht nicht.
Ich brachte sie zum Ballettunterricht in den Palast der Jugend und Kultur. Dort wollte man sie nicht, bis ich erwähnte, wo mein Mann arbeitete. Aminat wurde aufgenommen.
Das Ballett hat uns viel gebracht. Aminat schaffte es allmählich, so zu laufen, dass ihre Fußspitzen nicht mehr aufeinander zeigten. Sie fiel seltener hin. Wenn sie saß, zog sie die Schultern nicht mehr automatisch nach oben. Ich musste ihr nicht mehr ganz so oft den Finger zwischen die Schulterblätter bohren, damit sie sich aufrichtete.
Ein Jahr zog vorüber und noch eins.
Aminat wurde fünf Jahre alt, und wir feierten ihren Geburtstag.
Ich scheute weder Zeit noch Mühe, und mein Kuchen »Napoleon« hätte sich auch auf einem großen Staatsempfang gut gemacht. Ich hatte ein gutes Händchen für den Blätterteig, wie für alles andere auch. Nach vier Stunden hatte ich zehn knusprige Böden, die ich mit Buttercreme tränkte und zu einem Wunderwerk aufschichtete, so luftig und süß, wie ich mir Aminats künftiges Leben vorstellte.
Mein Mann besorgte Luftballons und blies sie auf, mit geblähten Wangen und vor Druck geröteten Augen.
Wir luden keine Kinder ein. Wir hatten gerade neue jugoslawische Polstermöbel gekauft. Wir luden zwei Kollegen meines Mannes ein, außerdem Klavdia und meine Cousine Rafaella. Das Telefon stöpselte ich aus, damit uns das permanente Klingeln nicht störte. Ich zog Aminat ein rosafarbenes Rüschenkleid an, das ich selbst genäht hatte, und kämmte ihre schwarzen Locken.
Sie spielte mit den Luftballons, summte vor sich hin und lachte wie das glücklichste Kind der Welt. Sie bekam Ausmalbücher geschenkt, Buntstifte, Filzstifte, Strumpfhosen, Mandarinen und einen Arztkoffer zum Spielen. Sofort öffnete sie ihn und begann, die Instrumente auseinanderzusortieren. Ich sah sie an, und mir wurde warm ums Herz. Ich erkannte es auf den ersten Blick: Meine Enkelin würde einmal eine Ärztin werden, und was für eine.
Ich lachte vor Freude über meine eigene Idee. Eine Ärztin hatte in der Familie gefehlt. Zwar war Kalganow, seit er Gewerkschaftsvorsitzender war, endlich auch zu etwas zu gebrauchen. Und selbst Sulfia hatte, als sie noch bei uns gelebt hatte und wenn es sehr nötig war, auch mal eine Spritze geben können. Aber eine richtige Ärztin im Haus war wichtig, wenn man älter wurde. Das war ein respektabler Beruf, und damit war ich mir der künftigen Anerkennung aller Nachbarn und Kollegen sicher, denn außer mir wurden alle ständig krank und brauchten Spritzen, Bescheinigungen oder Medikamente.
»Stethoskop, meine Süße«, erweiterte ich sofort Aminats Wortschatz. »Infusion, mein Liebling. Tu-ber-ku-lo-se.«
Hätte ich das bloß nicht gesagt mit der Tuberkulose.
In Aminats Kindergarten wurde der Mantoux-Test durchgeführt. Die Kinder bekamen eine Spritze in den Unterarm, und um die
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